Frauenwahlrecht
„Nicht bei den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung, sondern bei einer späteren (30. März 1919) habe ich zum ersten Mal sozialdemokratisch gewählt - heimlich, weil ich in meiner Familie auf Verständnislosigkeit gestoßen wäre.“ (Zeitzeugin)
Der Rat der Volksbeauftragten war eine revolutionäres Übergangsregierung mit Friedrich Ebert an der Spitze. Der Rat erließ am 12. November 1918 einen Aufruf an das deutsche Volk: „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“ Zwei Wochen später trat das Reichswahlgesetz mit dem allgemeinen aktiven und passiven Wahlrecht für Frauen in Kraft. Damit hatte die SPD ein altes Ziel ihrer Politik verwirklicht.
Für die nächsten 5 Monate standen 5 Wahlen an: die Delegiertenwahl zum Arbeiter- und Soldatenrat, die Wahlen zur Nationalversammlung, zur preußischen Landesversammlung sowie die Wahlen der Bürgervorsteher und des Arbeiterrates zum II. Kongress der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Die Zahl der Wahlberechtigten hatte sich gegenüber der letzten Wahl 1912 mehr als verdoppelt. 300 Frauen kandidierten reichsweit für die Nationalversammlung. 37 Frauen - insgesamt gab es 423 Abgeordnete - wurden schließlich gewählt. Auch wenn die Wählerinnen in ihrer Mehrzahl den konservativen Parteien ihre Stimme gaben, waren die meisten weiblichen Abgeordneten doch in den Reihen der SPD zu finden.
Stimmen zu gewinnen
Die Gleichstellung der Frau war eine alte Forderung der SPD. Noch 1917 wurde diese im Reichstag von den bürgerlichen Parteien abgelehnt. Mit der Revolution wurde diese Gleichstellung zumindest im Bereich des Wahlrechts umgesetzt. Plötzlich gab es bislang ignorierte Wählerschichten, für die eine spezielle Ansprache erst entwickelt werden musste. Ein großer Teil der männlichen politischen Klasse, aber auch der normale Familienvater, waren verunsichert. Hinzu kam, dass die bürgerlichen Parteien eine Majorisierung durch die Mehrheitssozialdemokraten und die Unabhängigen befürchteten, zu der die Frauen betragen konnten.
Versammlungen
Seit der Festsetzung eines Termins für die Wahl zur verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 begannen politische Versammlungen die Freizeitgestaltung der Göttinger zu dominierten. Eine Zeitzeugin erinnerte sich: "Als ich anfing zu
studieren, war eigentlich die Frage: Zu welcher Parteiversammlung gehen wir heute abend? Es waren abends immerzu Vorträge und Versammlungen, und wir spazierten von einer zur anderen."
Die politisch engagierten Göttinger Frauen waren nicht begeistert von dem, was sie auf den politischen Versammlungen sahen. In einem Aufruf, unterschrieben
von 40 Göttingerinnen, sprachen sie sich gegen Polemik, persönliche Angriffe und Unsachlichkeit aus.
Kommunalwahlen
Bei den ersten Kommunalwahlen nach der Revolution am 02.03.1919 wurden vier Frauen in das Bürgervorsteherkollegium (Rat) der Stadt gewählt. Für die Mehrheitssozialdemokraten (Liste Bode) waren dies Luise Stegen, die Ehefrau des Ortsvereinsvorsitzenden Wilhelm Stegen, und Henny Lehmann, Malerin und Ehefrau des Prof. Dr. jur. Karl Lehmann.
Elsbeth Freytag-Winter, geb. 05.11.1866 Northeim, zog für die DVP (Liste Schmidt) in den Rat.
Die Oberlehrerin Dorothea vor Mohr, geb. 16.06.1876 Hamburg, war ab Anfang Dezember 1918 im geschäftsführenden Vorstand der DDP-Ortsgruppe aktiv, sie saß für die DDP (Liste Föge) ab März 1919 im Rat.
Der Anteil der Frauen im Rat war marginal, ab 1924 bis 1933 aber war Luise Syring (SPD) die einzige Frau im Bürgervorsteherkollegium.
Luise Stegen (1871-1953)
Mitte der 1920er Jahre
1894 Heirat mit dem langjährigen SPD-Ortsvereinsvorsitzenden Wilhelm Stegen
1908 Eintritt in die SPD
1914-1918 ehrenmatliche Tätigkeit im Deutschen Hilfsdienst
März 1919 Bürgervorsteherin für die SPD
1922 Vorsitzende des inoffiziellen Ausschusses für Arbeiterwohlfahrt
1922 Vorsitzende der Frauenkommission des SPD-Ortsvereins
1924 Leitung des Frauentags des SPD-Unterbezirks
1926 Vorsitzende des Ortsausschusses für Arbeiterwohlfahrt, Mitorganisatorin des vierten Frauentages des SPD-Unterbezirks in Northeim
Henriette (Henni) Lehmann (1862-1937),
Malerin und Schriftstellerin, Foto undatiert
Tochter des liberalen Mitgliedes des Preußischen Abgeordnetenhauses Wolfgang Straßmann
1888 Heirat mit dem Juristen Karl Lehmann, Konversion zum Protestantismus
1907 erster Aufenthalt auf Hiddensee, soziales Engagement auf der Insel
1911 Vorsitzende des Rostocker Frauenvereins, Umzug nach Göttingen
1914-1918 Leiterin der Göttinger Abteilung des Nationalen Frauendienst (NFD)
März 1919 Bürgervorsteherin für die SPD,
ab 1919 Aufenthalte auf Hiddensee, Engagement im Hiddensoer Künstlerinnenbund
Zentrum des Künstlerinnenbundes war die Kunstscheune in Vitte neben dem Ferienhaus von Henni Lehmann
1921 Die Frauen aus dem Alten Staden Nr. 17, zwei weitere sozial engagierte Romane folgten
ab 1933 von den Nationalsozialisten verfolgt, nahm sie sich 1937 das Leben.
Zeitzeuginnen
Meta Büder, geboren 1897, war die Tochter eines Telegraphensekretärs. Sie studierte und wurde Lehrerin.
Nicht bei den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung, sondern bei einer späteren (30. März 1919) habe ich zum ersten Mal sozialdemokratisch gewählt - heimlich, weil ich in meiner Familie auf Verständnislosigkeit gestoßen wäre. Aber mich hatten einfach die Argumente der SPD überzeugt.
B. , M.-H. war die Tochter eines Anwalts. Sie war zur Zeit der Revolution 23 Jahre alt und arbeitete als Hilfsschwester vom Roten Kreuz.
Ich habe mich an den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung nicht beteiligt. Diese war mir zu sozialdemokratisch.
Dr. Elisabeth Engelhard, Jahrgang 1895 war eine Offizierstochter. Sie arbeitete später als Direktorin einer Sonderschule.
Ich nehme an, daß ich Deutsche Demokratische Partei gewählt habe. An einzelne Personen kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber es gab wohl doch liberal eingestellte Menschen, die mir sehr imponierten und bei denen ich das Gefühl hatte: Wenn die nun ans Ruder kommen, dann wird alles besser.
Gretchen Gellinek, geb. Calsow‚ geboren 1893, war die Tochter des Oberbürgermeisters. Offizierswitwe — parteilos
Ich habe mit meinem Vater zusammen die Deutsche Volkspartei gewählt. Meine Schwester hat die Deutschnationale Volkspartei gewählt. Wir mußten vier Stunden vor der Albanischule anstehen, um zu wählen - Stunden um Stunden! Da sagte unsere Mutter: "Unsere weißen Bohnen! Wir haben weiße Bohnen heute mittag‚ was aus denen wohl wird!" Das sind so kleine Dinge, die ich behalten habe. Sie zeigen aber, welcher politische Wille sich herausbildete: in der Stunde der Entscheidung sich durch keinerlei äußere Widrigkeiten an der Stimmabgabe hindern zu lassen.
Auguste Gemmecke, geboren 1891, wohnte in Grone. Ihr Vater war Schlosser. Auguste Gemmecke wählte wie ihre Eltern, die Deutsch Hannoversche-Partei.
An den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung habe ich mich nicht beteiligt. Meine Eltern ebenfalls nicht, denn sie waren schon um die 70 Jahre alt. Mein Mann hat sich nie an etwas beteiligt. Der neuen Verfassung gegenüber war ich skeptisch.
Mathilde Kiel, geboren 1895 war Krankenschwester. Ihr Vater war Kaufmann, sie selbst trat in keine Partei ein.
Es gab schon das Wahlrecht für Frauen, und da habe ich mich natürlich an den Wahlen beteiligt. Was ich gewählt habe, weiß ich nicht mehr genau, entweder die deutsche Volkspartei oder die Deutschnationale. Mein Vater hat immer deutschnational gewählt.
Zoe Krieg war zur Zeit der Revolution 14 Jahre alt. Ihr Vater war Jurist, sie selbst arbeitete als Sachbearbeiterin. Sie trat nie in eine Partei ein.
(…) Nein, ich war zu jung. Später habe ich Stresemanns Volkspartei gewählt.
(Popplow 1975, S. 797)
Ida Küchemann, Jahrgang 1895, war eine Pastorentochter. Sie trat in keine Partei ein.
Nein. (Frage: Haben Sie nicht gewollt, oder haben Sie nicht gekonnt?) Ich hatte doch keine Ahnung von allem. Ich habe dann immer gewählt, was mein Mann wählte. Aber Politik hat mich nie sonderlich interessiert. (Frage: Wenn Sie jetzt darüber nachdenken, welche Partei hätten Sie dann wohl gewählt?) Damals hätte ich rechts gewählt.
Else Mävers, -geboren 1896, war Lehrerin. Ihr Vater war Rektor an der Albanischule. Sie trat in keine Partei ein.
Ich habe mich immer an den Wahlen beteiligt und immer, bis auf das eine Mal, DVP gewählt. Die Deutsch- Nationalen waren mir zu eng. Wir sind zu sehr in dem Begriff "Vaterland- Preußentum" aufgewachsen, um anders als DVP zu wählen.
Dr. Elisabeth Mannkopff, geboren 1895, war 1918 Studentin der Medizin. Sie arbeitete aber als Hilfsschwester vom Roten Kreuz. Ihr Vater war zur Zeit der Revolution Landrat.
Ja, ich habe Deutsche Volkspartei gewählt. Über die Verfassung und die Personen kann ich nichts sagen.
Elisabeth Meyer, geboren 1896, war von Beruf Kinderschwester. Ihr Vater war Kaufmann.
Ich glaube, ich habe mich an der Wahl beteiligt. Ich habe die Deutsch-Nationalen gewählt. Die Deutsch-Nationalen haben damals unter der Jugend sehr viele Anhänger gehabt. Auch ich bin begeistert hingegangen, da sie uns in Veranstaltungen etwas boten. Man wurde aus der alltäglichen Angst herausgehoben.
Berta Schrader, geborene Nolte, war Jahrgang 1900 und wohnte in Hetjershausen. Ihr Vater war Lehrer, sie selbst erlernte keinen Beruf und wählte konservativ.
Als ich wählen konnte, wählte ich rechts, national. Ebert begrüßten wir, weil so erst einmal Ordnung in den Staat kam. Das war damals das Wichtigste. Auch mit Scheidemann waren wir einverstanden. Die Bürgermeister auf den Dörfern waren alle national eingestellt.
Lena v. Stutterheim, geboren 1889, war Tochter eines Professors. Sie arbeitete nach einer Kurzausbildung am Kriegsende als Krankenschwester.
Natürlich habe ich mich an den Wahlen beteiligt. Es war schließlich das erste Mal, daß öffentliche Wahlen stattfanden und daß ich als Frau mit bestimmen durfte. Die Wahl war nicht gut organisiert. Wir haben ganze Stunden lang vor der Stimmabgabe warten müssen. Ich habe so rechts wie möglich gewählt, wahrscheinlich DNVP. Ich war nie für die Demokraten. Ich finde die Demokratie furchtbar, denn sie führt zu einer Zügellosigkeit. Wir müssen an die Kandarre genommen werden.
Ingeborg Willrich, Jahrgang 1899, war die Tochter von Hugo Willrich, einem bekannten antisemitischen Agitator in Göttingen. Sie war 1918 Obersekundanerin des Realgymnasialen Kurses in der Stadt. Sie begann ein Studium und wurde Mittelschullehrerin.
(Zu jung für die ersten Wahlen) Ich habe mit 19 Jahren unzählige Versammlungen aller Parteien besucht, um mich vor der Wahl zu informieren und hatte einen Ekel vor den Menschen davongetragen. "Politik verdirbt den Charakter" , ist keine ganz unwahre Behauptung. Alle wollen an die "Macht", bekriegen sich und lernen nichts aus geschichtlichen Erfahrungen, Blutvergießen, Tränen und tausendfältigem Leid.