Reaktionäre Kräfte
"(...) unsere völlig unfähige politische Leitung, unsere jeder Beschreibung spottende Liederlichkeit in der Etappe‚ in der Heimat das schamlose Sichbereichern, Wuchern und Hamstern, das planmäßige Untergraben des Siegeswillen und der Disziplin, unsere größte Sünde: der völlige Mangel an nationalem Selbstbewußtsein, der es möglich machte, selbst in dieser Zeit uns selbst zu entmannen und in frevlem Wahnwitz die Waffen wegzuwerfen (...)", (Pastor Ködderitz: Die deutsche Seele ist verdorben; ein Göttinger Pastor deutet die Zeit, 1919)
Die „Reaktion“ als die „Gesamtheit der fortschrittsfeindlichen politischen Kräfte“ hatte viele Gesichter. Doch die Familienähnlichkeiten waren deutlich zu sehen. Traditionelle „-ismen“ wie der Antisemitismus und der Militarismus, die schon in der Kaiserzeit in Blüte standen, verbanden sich mit neuen. Antijüdische Vorurteile verbanden sich mit Antibolschewismus und antidemokratischem Denken in den Schlagwörtern von den „Novemberverbrechern“ und des „Dolchstoßes“. Die Siege der Vergangenheit, wie der über Frankreich 1870/71, wurden mythologisch verklärt. Und vermeintlich neue Siege wurden gefeiert, wie der über die Spartakisten. In den Köpfen der jungen Männer der Freikorps fanden fast alle dieser Versatzstücke rückwärts gerichteter Weltanschauungen ihren Platz.
Militarismus
Die Göttinger waren, wie alle Deutschen, Opfer der Informationspolitik der Obersten Heeresleitung. Sie hörten und lasen nur von Heldentaten und Siegen. Die Zensur hatte ein Bild des Kriegsverlaufs geschaffen, das den Boden für die "Dolchstoßlüge" vorbereitete.
Die Verantwortung für die Niederlage wollten die führenden Militärs nicht übernehmen. Nach vier Jahren und zwei Monaten Krieg erklärt die Oberste Heeresleitung am 28. September 1918, dass der Krieg verloren war und forderte die Einleitung von Waffenstillstandsverhandlungen. Hindenburg und Ludendorff verbreiteten dabei gezielt das Bild des an der Front unbesiegten Heeres: Friedensinitiativen, Agitation von links und Streiks hätten das bis dahin unbesiegte Heer von hinten „erdolcht“. Die Verhandlungen für einen Waffenstillstand wurden im November 1918 von den Vertretern der Übergangsregierung geführt, die Waffenstillstandskommission leitete Staatssekretär Matthias Erzberger.
So entstand das Bild des "im Felde unbesiegten Heeres", das von den "Novemberverbrechern" verraten wurde. Oberbürgermeister Calsow sagte in seiner Ansprache anlässlich der Rückkehr von Teilen der
Garnison Ende November 1918:
"Neuen unverwelklichen Lorbeer hat das 82. Regiment auf blutiger Wahlstatt um seine sieggewohnten Fahnen geflochten! (...) Aber
nicht als Besiegte kehren Sie heim! In treuester Dankbarkeit schlagen unsere Herzen den Helden des 82. Regiments entgegen."
Die "Dolchstoßlüge",
die die Weltkriegsniederlage den "Novemberverbrechern" und ihren Unterstützern - Sozialisten und Juden - zuschob, verwob die Gründung der neuen Republik mit "Verrat". Sie war in rechten und konservativen Kreisen die beherrschende Haltung zum Kriegsende.
Freikorps
Anfang November 1918 kam es zu einer Vereinbarung zwischen dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert als Vertreter der Übergangsregierung und Wilhelm Groener, dem Nachfolger Ludendorffs in der Obersten Heeresleitung. Das Heer sicherte Loyalität gegenüber der neuen Regierung zu und versprach Schutz gegen linke Umsturzversuche. Im Gegenzug wurde von Ebert die alleinige Befehlsgewalt der Offiziere garantiert. Damit sollte Ruhe und Ordnung gewährleistet und bürgerkriegsähnliche Zustände wie seit die Russischen Revolution 1917 vermieden werden.
Die zurückkehrenden Verbände des Heeres lösten sich meist auf, ihre Kader wurden von Freiwilligen aufgefüllt. Daraus bildeten sich die Freikorps, die meist von jüngeren Frontoffizieren geführt wurden. Sie übernahmen Sicherungsaufgaben und kämpften im Auftrag des Rates der Volksbeauftragten und der Reichsregierung gegen linke "Aufstände" sowie im Osten des Reiches. Die Zahl dieser Einheiten war beträchtlich.
Die Reichsregierung hätte in dieser Situation auch auf Schutzverbände von Arbeitern zurückgreifen können. Sie erlegte mit ihrer Entscheidung der jungen Republik eine schwere Hypothek auf. Die Freikorpsangehörigen waren meist im Krieg sozialisiert, ihre Gewalterfahrungen prägten das Vorgehen auch nach dem Waffenstillstand. Ihr Hass richtete sich u.a. gegen "Novemberverbrecher" und "Bolschewisten".
Am 6. Dezember 1918 kam es in Berlin zum ersten Maschinengewehreinsatz gegen Demonstranten, am 11. Januar zu den ersten Geiselerschießungen bei der Rückeroberung des "Vorwärts"-Verlagsgebäudes",
vier Tage später zur Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Diese Entgrenzung der Gewalt gegenüber Linken und vermeintlichen "Bolschewisten" - im sog. "Märzaufstand" wurden in Berlin
Zivilisten von Fliegerbomben getötet - sollte das erste Halbjahr 1919 prägen.
Auch in Göttingen wurde für die Freikorps geworben. Ab März finden sich verstärkt Werbeanzeigen in den Zeitungen. So für eine Heimatschutzkompanie, die von Hauptmann Jobst von Hanstein (1896-1962) geführt wurde oder das Freikorps Hülsen, das im Januar in Berlin eingesetzt wurde. Geführt wurde es von General d. Infanterie Walter v. Hülsen (1863-1947). Im März noch ein Freikorps, wurde es im Mai als Reichswehr-Brigade 3 in die Vorläufige Reichswehr eingegliedert.
In Göttingen selbst entstanden zwei Verbände:
Das Freikorps von Neufville wurde aus Offizieren und Mannschaften des Reserve-Infanterie-Regiments 91 gebildet.
Aus den Reihen des Infanterieregiments 82 stellte Hauptmann Everken das Hessisch-Thüringische Freikorps auf. Eingesetzt wurden Teile des Verbandes in Oberschlesien und zur Niederwerfung der Münchner Räterepublik, dazu gehörte auch die Kompanie Hoßbach (s.u.). Zwei seiner Kompanien sicherten zeitweise die Weimarer Nationalversammlung (Meinhardt 1982).
Kompanie Hoßbach
Ab Anfang März 1919 begann die Werbung für die Kompanie Hoßbach (Oberleutnant Friedrich Hoßbach, 1894-1980). Sie war zunächst ebenfalls in der Göttinger Garnison
untergebracht, bildete aber einen Teil des Hessisch-Thüringischen Freikorps. Aufgestellt wurde sie, um das Vaterland gegen Polen und Bolschewismus zu schützen. Mitte
März 1919 war im Göttinger Tageblatt zu lesen: "Die Kompagnie besteht fast nur aus Göttingern‚ die treue Kameradschaft untereinander halten. Sie ist der Göttinger
Einwohnerschaft schon wiederholt dadurch bekannt geworden, daß sie mit klingendem Spiel durch die Straßen gezogen ist. Bereits in den nächsten Tagen wird die Kompagnie in Marsch
gesetzt."
Sie sollte ihren ersten Einsatz im April 1919 gegen die Münchner Räterepublik haben. (Artikel des Göttinger Tageblatt zum Einsatz gegen die Räterepublik) Hoßbach
äußerte sich dazu 1974:
"Ich gehörte ab Februar 1919 dem Freikorps an, und im Freikorps trugen alle ihre Abzeichen.(...) Es wurde nur eine Kompanie Hoßbach aufgestellt. Zu uns kam noch eine Kompanie Krüger, das war die Grenadiersturmkompanie und
die Maschinengewehrkompanie von einem Hauptmann oder Major Eherken - er ist auch tot. Also daran ist kein Zweifel: wir haben in dem Freikorps unsere Abzeichen getragen, einen Tannenzweig am
Kragen rechts und links, und wir, die 9. Kompanie, das Wappen der Stadt Göttingen - in den Farben Schwarz- gelb - auf dem linken Oberarm."
Den Einsatz gegen die Münchner Räterepublik schildert er ebenfalls: "Eine Artilleriekaserne hatte dort rote Posten aufgestellt und die hatte ich zu beseitigen. Das
geschah sehr schnell und nicht sehr rücksichtsvoll."
(Frage: Nun hört man, daß es Übergriffe der Freikorps auf die Zivilbevölkerung gegeben hätte.) "Nein. Alles, was sich uns entgegenstellte oder uns gar mit der Waffe
bedrohte, das wurde beseitigt."
(Frage: Aber Verletzungen der Kriegskonventionen gab es nicht?) "Nein, überhaupt nicht. Auf keinen Fall. Wir blieben bis Ende Mai in München und wurden dann nach
Oberschlesien verlegt (...)."
Nach dem eher ereignislosen Einsatz in Oberschlesien wurde die Kompanie Anfang Juli 1919 wieder nach München verlegt. Hoßbach hatte sehr positive Erinnerung an die Aufnahme seiner
Freikorps-Einheit:
"Großer Jubel in der Kompanie. Wir waren nämlich sehr gern gesehen gewesen in München. Im Mai, nach der Einnahme von München, hatten wir die 9. Kompanie, im
Waisenhaus in Nymphenburg gelegen. Und dieses Waisenhaus war vollkommen intakt. Das wurde von einer Oberin geleitet, die konnte sich sehen lassen. Sie hielt eine wunderbare Mannszucht - Zucht und
Ordnung in ihren Waisenhaus - und vertrug sich blendend mit dem Oberleutnant Hoßbach‚ der auch für Zucht und Ordnung war. Ja, die Frau Oberin! Als wir wegverlegt wurden nach Schlesien‚
veranstaltete sie einen Abschiedsabend für uns, und da waren der - ich will jetzt nicht übertreiben‚ -Vizebürgermeister oder der Oberbürgermeister der Stadt da. Sie hatte also die Potentaten der
Stadt dazu eingeladen. Es ging uns damals überhaupt sehr gut. Wir erhielten zu unserer Verpflegung aus der Feldküche eine Donau-Zulage. Sie bestand aus einigen Mark, ich weiß nicht: drei oder
fünf Mark. Dann bekamen wir täglich ein Fuder Bier. Das konnten die Soldaten, jeder etwa einen Liter, aus ihrem Kochgeschirr trinken. Außerdem bekamen wir von den Nonnen jeden Morgen Milch oder
Kakao.
Das alles kennzeichnet die Stimmung des Frühjahrs und Sommers 1919 und erklärt, warum wir gern nach München zurückkehrten. Dennoch: Dort machte sich bald der unwiderstehliche Drang bemerkbar, in
unser geliebtes Göttingen zurückverlegt zu werden. Denn als eine Göttinger Einheit hat sich meine Kompanie während der ganzen Wochen und Monate gefühlt. Die von uns getragenen Uniformabzeichen
waren das äußere Kennzeichen unseres ständig stärker werdenden Wunsches, in die Garnisonstadt heimzukehren. Denn das war uns Göttingen in dieser notvollen‚ unbehausten Zeit geworden: eine
wirkliche Heimat, eine Stadt der Geborgenheit, nach der wir uns sehnten."
Zeitfreiwillige
Die Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokraten verließen den Rat der Volksbeauftragten nach dem harten militärischen Vorgehen in den "Berliner Weihnachtskämpfen". Der Sozialdemokrat Friedrich Ebert rief danach zur Bildung von Freiwilligenverbänden auf, um ein Weitertreiben der Revolution durch linke Kräfte zu unterbinden. Die Freiwilligen sollten jeweils für drei Monate ihren Dienst leisten. Angesprochen wurden vor allem Studenten.
In Göttingen wurde für diese Verbände ab März 1919 geworben. Friedrich Hoßbach, damals Oberleutnant, berichtete dazu 1974: "Die Studenten liefen in hellen Scharen zu den Freikorps über. Ein Industrieproletariat gab es hier nicht. Von dem Generalstabsoffizier Schäfer, der gerade studierte, wurden wir gefragt, ob die Studenten nicht auch an der Bewaffnung teilnehmen dürften. Wir sagten: "Nur wenn Sie sich nach unseren Befehlen richten!" Das wurde gemacht, und so stellten wir ein 1000-Mann starkes Studentenbataillon auf - drei oder vier Kompanien stark."
Die Zeitfreiwilligen wurden argwöhnisch von der Göttinger Arbeiterschaft beobachtet, denn die Aufstellung des Studentenbataillons wurde parallel zur Schaffung einer Göttinger Bürgerwehr im März 1919 durchgeführt. Das bedeutete die Auflösung der Volkswehr, dem eigentlich exekutiven Arm der Arbeiter- und Soldatenrats. Die Gerüchte, dass in dem Corps- und Verbindungshäusern Waffenlager der Studentenschaft eingerichtet seien, verstummten nicht. Befürchtungen innerhalb der Arbeiterschaft, dass mit der Schaffung der Verbände der Zeitfreiwilligen gerade die Gegner der Revolution bewaffnet wurden, waren durchaus begründet.
Das Göttinger Studentenbataillon existierte noch bis 1920. Nach dem Kapp-Putsch, ausgelöst von Freikorpseinheiten, nahm es unter dem Kommando von Major Ahlborn an den Kämpfen gegen die Rote Ruhrarmee teil.
Antisemitismus
Die Ausprägung des Antisemitismus nahm in der Geschichte verschiedene Formen an. Das Klima der ersten Kriegsjahre war auch geprägt von dem immer wieder erhobenen Vorwurf, Juden würden sich dem Frontdienst entziehen. Sie waren jedoch im Heer gemäß ihres prozentualen Anteils der Gesamtbevölkerung vertreten. Dem Stereotyp der "jüdischen Drückebergerei" sollte 1916 durch eine "Judenzählung" im deutschen Heer der Boden entzogen werden. Ergebnisse dazu wurden nie veröffentlicht, dies stärkte eher die antisemitischen Stereotypen und Vorurteile, vor allem im Offizierkorps.
In Göttingen traf man im Frühjahr 1919 auf verschiedene völkische Verbände: den Reichs-Hammer-Bund, den Deutschvölkischen Bund sowie den Deutschen Schutz- und Trutzbund, dessen Vereinssymbol das Hakenkreuz war. Das Gesicht des Göttinger Antisemitismus bildete jedoch der Verband zur Befreiung vom Judenjoch. Gegründet wurde eine Ortsgruppe des Verbandes am 11.07.1919, 170 Personen traten sofort bei.
Vorsitzender wurde Baurat Leben, Hugo Willrich hielt in der Gründungsversammlung einen Vortrag. Der Verband sollte sich 1920 mit anderen völkisch-antisemitischen Gruppierung zur Ortsgruppe des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes zusammenschließen und die personelle Basis für die Gründung einer NSDAP-Ortsgruppe bilden.
Hugo Willrich
Der gelernte Historiker Willrich war ab 1896 Privatdozent an der Universität Göttingen, 1904 wechselte er in den Schuldienst. Ab 1914 nahm er als kriegswilliger Leutnant am Weltkrieg teil. 1917 wurde er Honorarprofessor. Ab November 1918 engagierte er sich in der neu gegründeten Deutschnationalen Volkspartei (DNVP).
Er war Mitbegründer der Göttinger Ortsgruppe des Deutschen Schutz – und Trutzbundes und vertrat seine antisemitischen Überzeugungen sehr offensiv im Verband zur Befreiung vom Judenjoch. Auch in Willrichs wissenschaftlichen Publikationen hinterließ sein Antisemitismus Spuren ebenso wie seine polemischen Zeitungsartikel gegen demokratische Professorenkollege davon geprägt waren. Eine Vielzahl von politischen Versammlungen bot ebenfalls die Gelegenheit zur Agitation. (dazu Georg Schnath)
Hugo Willrichs Sohn Wolfgang war Schriftsteller und Maler. Ab 1934 in der nationalsozialistischen Kunstpolitik engagiert, war er 1937 Kurator der Ausstellung Entartete Kunst.
Antibolschewismus
Dieser weitere Baustein der reaktionären Weltanschauung fand sich bei allen politischen Kräfte - von den Mehrheitssozialdemokraten bis hin zum rechten Rand der völkisch-antisemitischen Gruppierungen: der Antibolschewismus. Die Oktoberrevolution in Russland war etwas mehr als ein Jahr vergangen, in Deutschland blickte man mit Entsetzen auf bürgerkriegsähnliche Zustände und echte und vermeintliche Gewalt- bzw. Gräueltaten. Vor allem aber fürchtete man die Sozialisierung der Produktionsmittel, den Wegfall der bürgerlichen Eigentumsordnung. Diese Bedrohung führte noch Mitte November 1918 zum Stinnes-Legien-Abkommen, mit dem die aufgeschreckten deutschen Unternehmer durch weitgehende Zugeständnisse ihr Eigentum sicherten. (dazu Gewerkschaften).
Unter dem Titel "Der Bolschewismus im Reich" las der Göttinger am 9. November 1918 Berichte über die Arbeiter- und Soldatenräte in Hamburg, Bremen, Köln und Berlin im Göttinger Tageblatt. In dem Artikel taucht nur eine politische Forderung auf: die nach einem allgemeinen gleichen Wahlrecht. Trotz ihrer systemstabilisierenden Tätigkeit (Ruhe und Ordnung) waren die Räte von Beginn an einem "Bolschewismusverdacht" ausgesetzt. Die allgemeine Hysterie, ein spartakistischer Putsch stünde unmittelbar bevor, erfasste auch Göttingen. (Beispiele)
Auf Reichsebene waren die beiden Köpfe der Spartakusgruppe (ab dem 1.1.1919 Kommunistische Partei Deutschlands), Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Ziel dieser Anfeindungen. Liebknechts tatsächlichem politischen Gewicht entgegengesetzt, wurde er im Dezember 1918 dem Zeitungsleser als künftiger Diktator Deutschlands präsentiert.
Typisch für die Vermengung verschiedener ideologischer Versatzstücke erfolgte dabei eine Gleichsetzung von politisch links=Bolschewismus=Judentum. Kurt Eisner, der bayrischer Ministerpräsident bis zum Januar 1919, veröffentlichte die bayrischen Gesandtschaftsberichte um einen Beweis der deutschen Kriegsschuld anzutreten. Sein Mörder Anton Graf von Arco auf Valley, der Eisner am 21. Februar 1919 erschoss, schreibt in seinem Tagebuch: Eisner ist Bolschewist, er ist Jude, er ist kein Deutscher, er fühlt nicht Deutsch, untergräbt jedes vaterländische Denken und Fühlen, ist ein Landesverräter. Der Göttinger Pastor Ködderitz schrieb im Göttinger Gemeindeblatt vom 1.1.1919: Mag der ostgalizische Jude, der sich auf den Thron der Wittelsbacher geschwungen (Eisner)‚ und seine Geistesverwandten sich erdreisten, offen vor der Welt alle Schuld auf unser Haupt zu häufen, wir wollen nicht jenen gemeinen Vögeln gleichen, die ihr eigenes Nest beschmutzen.
Zeitzeugen Antisemitismus
Meta Büder, geboren 1897, war die Tochter eines Telegraphensekretärs. Sie studierte und wurde Lehrerin.
(…) Die Juden gingen wie alle anderen in den Krieg. Eigentümlicherweise meldeten sie sich gerne zum Train. Es mag an ihren schlechten Füßen gelegen haben. Ein Nachbarjunge war auch Jude. Er
schickte seiner Mutter aus Rumänien Mehl. Nachdem meine Mutter dieses Mehl gesehen hatte, und es auch hätte gebrauchen können, schickte der Junge ihr auch Mehl.
Vor Augen steht mir noch die Begegnung mit einem jüdischen Kommilitonen auf einer Tanzveranstaltung im Studentenkreis. Er war nett, intelligent - eine wirklich gewinnende Erscheinung. Wir
diskutierten die ganze Zeit hindurch und wanderten nach Schluß der Veranstaltung gemeinsam stadteinwärts. Keiner verbarg seine Sympathie für den anderen, aber er war feinfühlig genug, um zu
spüren, daß damit auch gleich die Grenze gezogen war. Ich hätte nie einen Juden heiraten können. (Warum nicht?) Ach, es gab doch genug deutsche Männer.
Auguste Gemmecke, geboren 1891, wohnte in Grone. Ihr Vater war Schlosser. Auguste Gemmecke wählte wie ihre Eltern, die Deutsch
Hannoversche-Partei.
(…) Besonders die Juden konnten das. Richtig für die Juden ist damals wohl keiner gewesen. Es gab immer welche, die gegen die Juden waren. Meine Eltern haben nie etwas gegen Juden gesagt. Es kam
oft ein Jude aus Rosdorf nach Grone, der Schals vertrieb. Meine Mutter kaufte bei ihm. In Göttingen gab es ein großes Kaufhaus, das von Juden geleitet wurde. Dort kauften wir ebenfalls. Die Juden
waren Geschäftsleute, aber gearbeitet haben sie nicht. Gräfenbergs Söhne namens Neuhaus waren ebenfalls Juden und große Kaufleute. Die Juden waren alle reich. Als es anderen schlecht ging, hatten
sie noch Handelsware. Meine Schwägerin war Köchin bei Juden. Oh, wie die lebten! Alles feine Gerichte‚ wie Zunge und Geflügel u.ä.. Schweinefleisch aßen sie nicht.
Helmut Kuß war Jahrgang 1906. Sein Vater war Rechtsanwalt und Notar, er selbst war zuletzt Oberstadtdirektor und Mitglied der CDU.
(...) Ich weiß noch, daß der Antisemitismus eine dominierende Rolle in diesem ganzen Zirkel des Nationalismus spielte. Man nahm als bare Münze, daß die Juden den Krieg irgendwie verraten hatten,
und diese ganzen Klüngel von grünen Jungen war antisemitisch. Wir hatten zwei Juden in unserer Klasse, aber das war nicht so, das die etwa in der Klasse verfemt wurden. Im Gegenteil: der eine,
Hatschek, war ein guter Kamerad. Aber natürlich merkte man, das er anderer Meinung war. Sein Vater trat auch mit irgendwelchen Veröffentlichungen hervor. Er hatte zum Beispiel einen Zusammenstoß
mit meinem Lehrer Willrich. Ich weiß nicht mehr, worum es sich drehte, aber es war irgendetwas, was in den Tageszeitungen ausgetragen wurde. Professor Hatschek klagte gegen Professor Willrich und
nahm meinen Vater als Anwalt, obwohl mein Vater Mitglied der Deutsch-Nationalen Volkspartei war. Ich erinnere mich noch an einen Brief von Professor Willrich an meinen Vater, wo er diesen
außerordentlich begabten und anerkannten Gelehrten als einen "Schädling" bezeichnete. Ich weiß nicht, wie der Prozess ausgelaufen ist. Antisemitismus spielte eine Rolle und alles, was damals
national war, das war auch antisemitisch.
Dr. Gustav Wüster, Jahrgang 1893, war der Sohn eines Berufsschuldirektors. Er selbst studierte und trat 1933 der NSDAP bei.
(…) Ein Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrates war ein Göttinger Trödeljude namens Kahn (Karl Kahn). Dies war ein unscheinbarer Mann, unsympathisch aussehend, mit fleckigem Gesicht, aber ein
vorlauter Redner. Auf dem Bezirkskommando in Oldenburg hatte er dem Krieg siegreich überstanden. Und dieser Mann mußte wohl so ein bißchen am Größenwahn leiden. Er ließ sich jeden Morgen von
seiner Wohnung in der Gronerstraße mit dem Wagen des Offizierskorps des Infanterieregiments 82 abholen und zum zweihundert Meter entfernt gelegenen Rathaus bringen, um dort zu regieren.
Zeitzeugen Antibolschewismus
Barthold Helmoldt, Jahrgang 1896, war der Sohn eines Gutsbesitzers. Er selbst wurde Gärtner und blieb parteilos. Er war seit 1915 Soldat und trat nach
Kriegsende als Offizier in ein Freikorps ein, in dem er bis 1920 blieb.
(…) Ebert, Noske‚ Erzberger‚ usw. wurden von den Kommunisten bedrängt (Spartakisten). Diese wollten mit Gewalt russische Verhältnisse im Deutschen Reich einführen. Es gab öffentlichen Aufruhr.
Wir haben Ebert zu verdanken, daß das Deutsche Reich erhalten geblieben ist, und Noske, daß er mit harter Faust in Deutschland Ordnung geschaffen hat.
Friedrich Hoßbach war Jahrgang 1894. Am Ersten Weltkrieg nahm er zuletzt als Oberleutnant teil. Er kam erst Ende November 1918 mit seinem Regiment zurück nach Göttingen.
(…) Rathaus und 82er spielten erst in der Silvesternacht eine Rolle. Da wurden die aktiven Offiziere auf den Rathausplatz befohlen, wo der Oberbürgermeister Calsow uns bat, die Stadt vor den
roten Truppen zu schützen, die aus Kreiensen auf die Stadt zumarschierten. Wir wurden gefragt, ob wir bereit wären, und da sagte ich: "Nur, wenn sich der Soldatenrat in nichts, was diese
Angelegenheit betrifft, einmischt." Dem ist auch entsprochen worden. Wir haben dann vor der Universitätsaula und noch irgendwo gewartet, aber die zogen es vor, lieber nicht zu kommen.
Mathilde Kiel, geboren 1895 war Krankenschwester. Ihr Vater war Kaufmann, sie selbst trat in keine Partei ein.
(…) Diese Arbeiter- und Soldatenräte waren ja so ähnliche Gruppen, wie es sie auch in Rußland gab. Es war alles nach russischem Muster aufgezogen. Es war für uns einfach unverständlich, daß der
Kaiser gegangen war. Meine Eltern und ich, wir waren ja selbstverständlich kaisertreu gewesen.
Ida Küchemann, geboren 1895, war die Tochter eines Pastors. Sie lebte als Hausfrau und trat keiner Partei bei.
(…) Man hatte nur Angst vor den Kommunisten, die jeden, der etwas hatte, oder eine Persönlichkeit war, schlugen und umbrachten. An den Grenzen, also in Posen und im Westen, paßten Göttinger
Studenten auf, daß die sich nun nicht ganz so mausig machten.
Else Mävers, -geboren 1896, war Lehrerin. Ihr Vater war Rektor an der Albanischule. Sie trat in keine Partei ein.
(…) Große Befürchtungen stellten sich eigentlich nicht ein. Wir hatten nur etwas Angst vor den Kommunisten.
(…) Was uns auch störte, das waren die Leute, die durch die Revolution an die Regierung kamen. Man sagte, in Braunschweig, das sehr rot war, sei eine Putzfrau Kultusministerin geworden. (dort
wurde Minna Fasshauer zur Volkskommissarin für Volksbildung gewählt)
(…) Für uns waren die Räte Kommunisten. Damals hießen sie aber noch nicht offiziell so. Im Kreistag hießen sie wohl Sozialdemokraten und Unabhängige. Aber dem Sinn nach waren es wohl Kommunisten.
Dr. Georg Schnath, geboren 1898, bildet einen Sonderfall. Erführte Tagebuch zu den Ereignissen 1918 und 1919 und publizierte es in zeitlicher Nähe zu seinem
Interview mit Popplow.
(...) Da war die große Sorge von einem dumpf herannahendem Unheil, verbunden mit der Angst vor einer Bolschewisierung, wie man damals sagte, daß also die Entwicklung, die in Rußland begonnen
hatte, auf Deutschland überspringen würde. (...) Das ging bis Mitte März 1919 so weiter und drängte mich schließlich dazu, einem Freikorps beizutreten, um mitzuhelfen, dieses Schicksal
abzuwenden.