Volkswehr: Die Verwaltung des Mangels
„Die beschlagnahmten Lebensmittel haben bestimmt die Arbeiter- und Soldatenräte selbst gegessen.“ (Zeitzeuge)
„Soldatenräte lehnten wir ab. Die Bauern hatten Angst vor ihnen. Sie kamen in die Dörfer und holten die Frucht und vor allem Kartoffeln ab.“ (Zeitzeugin)
Die Aufgaben der Räte waren: Sicherstellung der Volksernährung durch Kontrolle der Ablieferung der landwirtschaftlichen Produkte, Förderung der landwirtschaftlichen Produktion, Mitwirkung bei den
Demobilisierungsmaßnahmen, Unterstützung der Behörden bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung.
Der Arbeiter- und Soldatenrat in Göttingen verwaltete den Mangel. Die Versorgung der Zivilbevölkerung unterschied sich nicht von der in Kriegszeiten: Die Rationierungen dauerten an und
betrafen Lebensmittel, Heizmaterial und Strom. Lebensmittel durften ohne Marken weder an Zivil- noch an Militärpersonen abgegeben werden. Die Kartoffelversorgung musste sichergestellt werden. Die
tägliche Stromzufuhr wurde begrenzt.
Die Volkswehr war das vollziehende Organ des Rates. Offiziell war sie aber der Polizeidirektion Göttingen unterstellt, um diese in ihren Ordnungsaufgaben zu unterstützen. Neben der Sicherstellung
von Ruhe und Ordnung kontrolliert sie die Lebensmittelverteilung und die Energierationierung. In der Bevölkerung hat sie deswegen schnell einem schlechten Ruf.
Der Regierungspräsident in Hildesheim richtete am 7. November an die Göttinger Polizeidirektion die Aufforderung zur Bildung einer Bürgerwehr. Noch war völlig unklar, wie sich das Militär in
dieser turbulenten Situation verhalten würde, in den Garnisonen war die Unruhe bereits handgreiflich. Viele Polizeibeamte waren zum Heeresdienst abkommandiert. Wer sollte die öffentliche
Sicherheit gewährleisten?
Zunächst sollte die Bürgerwehr aber den Schutz der Lebensmittelvorräte gewährleisten. Am 14. November regte der Soldaten- und Volksrat die Bildung einer Stadtwache an. Die
Polizeidirektion legte dem Soldaten- und Volksrat daraufhin einen Plan zur Bildung einer Volkswehr vor. Dies wurde tags darauf vom Soldaten- und Volksrat genehmigt, der auch den
Oberbefehl übernahm. Geführt wurde sie von Feldwebelleutnant Niemeyer, sein Stellvertreter war Sergeant Karl Dietrich, hinzu kamen 7 Gruppenführer. Auf der Löhnungsliste vom 20. November stehen
93 Namen. Mannschaften und Führer trugen unbetresste Feuerwehrröcke, einen Helm mit grasgrünem Überzug, eine Mütze mit grasgrünem Band und waren mit Karabiner und Seitengewehr bewaffnet. Eine
Kasernierung erfolgte in der Turnhalle der Mädchen-Mittelschule, der Gewerbeschule und den Räumen des Christlichen Vereins junger Männer. Bis Mitte Dezember wurde sie auf 140
Mannschaften verstärkt. Trotzdem reichte die Personaldecke nicht für die Bewachung des Bahnhofes und des Gefangenenlagers. Deshalb wurde mit Oberst Georg von Schmidt, dem Kommandeur des
Infanterieregiments 82, um die Aufstellung einer Bewachungskompanie verhandelt. Daraufhin wurde ab dem 18. Dezember die Volkswehr auf die Stärke von 40 Mannschaften reduziert, die übrigen 100
Mannschaften wurden von der Bewachungskompanie der Garnison übernommen.
Diese Maßnahmen wurden ohne klare Zustimmung des Arbeiter- und Soldatenrats durchgeführt. Dessen Mitglied Rohrig war zwar anwesend, hatte aber keinen Einfluss auf die Verhandlungen. Folgerichtig beschwerte sich der Rat Ende Dezember 1918 offiziell über die Schmälerung seiner Kompetenzen. In neuen Gesprächen mit der Garnison und dem Magistrat wurde festgelegt: Bestätigung des Oberbefehls des Arbeiter- und Soldatenrats, Wahl des Führers, Aufstockung der Mannschaftszahl (Mitte Januar 75), Tagesbefehle werden von einem Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats gegengezeichnet. Der Rat war sichtlich bemüht, seinen Einfluss an dieser Stelle zu verteidigen. Der Zug der Zeit, vor allem die Finanzierung sprachen dagegen: Anfang Februar wurde erneut über das weitere Schicksal der Volkwehr verhandelt. Die Kosten beliefen sich bislang auf 38 000 M, von denen ein Teil von der Militärverwaltung erstattet werden sollte. Man kam überein, die verbliebenen Volkswehrmänner ebenfalls in die Bewachungskompanie der Garnison zu übernehmen. Dem Arbeiter- und Soldatenrat sollte fortan eine von ihm ausgesuchte Abteilung als Bereitschaftwache zur Verfügung stehen. Diese Vorhaben wurden Ende Februar umgesetzt.
Am 3. März 1919 wurde auf einer Sitzung des Magistrats die Einrichtung einer Einwohner- oder Bürgerwehr beschlossen. Diese sollte sich aus Studenten, Bürgern und Arbeitern zusammensetzen und gegen spartakistische Putsche eingesetzt werden. Die anwesenden Vertreter des Arbeiter- und Soldatenrats waren vor allem gegenüber einer Aufnahme von Verbindungsstudenten skeptisch, sie vermuteten illegale Waffenlager in den Verbindungshäusern. Eine Durchsuchung der Häuser verlief aber ergebnislos. Im Arbeitsausschuss für die Bürgerwehr saßen neben Hauptmann Tönnessen und einem Studenten mit Hildebrandt und Ulrich zwei Vertreter des Arbeiter- und Soldatenrats. Bis Anfang April meldeten sich 1000 Personen.
Der Motor dieser Entwicklung war ein nach der Revolution schnell einsetzender Antibolschewismus. Auch die Göttinger (politisch bis tief in die SPD reichend) schauten gebannt auf die Ereignisse des Vorjahres in Russland und suchten nach Vorzeichen für Angriffe auf die Eigentumsordnung. Die Auseinandersetzungen zwischen dem Spartakusbund (ab dem 1.1.1919 Kommunistische Partei Deutschlands) u.a. linken Kräften mit dem Rat der Volksbeauftragten beförderte diese Entwicklung. Karl Liebknecht wurde in den Zeitungen zum kommenden Diktator gekürt, ein Putsch von links mehrfach angekündigt.
So stand auch die Volkswehr stand schnell unter dem Verdacht "bolschewistisch" zu sein. Am 10.01.1919 war im Göttinger Tageblatt in der Leserbriefspalte zu lesen: „In der Nacht vom 6. zum 7. Januar wurden Wachmannschaften der Volkswehr vielfach dabei beobachtet, wie sie mit ihren Seitengewehren Aufrufe einer bürgerlichen Partei entfernten. Leute, die diesen Aufruf verbreiteten, wurden von den Wachmannschaften mit unflätigen Redensarten beschimpft, tätlich bedroht und mit vorgehaltenen Pistole zur Herausgabe der Flugblätter gezwungen. Also auch in Göttingen bereits Terror auf der Straße!“