Das Colosseum in der Wiesenstraße bot Platz für politische Versammlungen. Städtisches Museum Göttingen
Das Colosseum in der Wiesenstraße bot Platz für politische Versammlungen. Städtisches Museum Göttingen

 Gewerkschaften

 

„Als ich nun zum Meister sagte: Ab Morgen arbeite ich nur noch 8 Stunden, da machte er großen Klamauk, weil ich junger Gehilfe war, und schimpfte furchtbar.“ (Zeitzeuge)

 

Verschiedene gewerkschaftliche Verbände schlossen sich 1902 in Göttingen zum Gewerkschaftskartell zusammen. Dieses nahm die Interessen der Arbeiter wahr, auch gegenüber der Kommunalverwaltung. Ab 1914 konnte zudem ein Arbeitersekretär besoldet werden. Der bevorzugte Versammlungsort der Gewerkschaften war die Kaiserhalle, daneben versammelte man sich auch im Colosseum und im Bürgerpark. Das Ende des Krieges brachte auch das Ende des „Burgfriedens“, der ab Herbst 1914 Tarifauseinandersetzungen und politische Konflikte auf Eis gelegt hatte. Im Gegensatz zu den meisten Regionen wurden in Göttingen Tarifabschlüsse meist erst nach Streiks erreicht, eine Tradition, die sich nach Kriegsende fortsetzte. Im Stinnes-Legien-Abkommen im November 1918 mit den Unternehmern erreichten die Freien Gewerkschaften (sozialistisch orientierte Gewerkschaftsorganisationen) große Erfolge: Kollektivvereinbarungen (später: Tarifverträge), Betriebsräte, 8-Stunden-Tag und Koalitionsfreiheit der Arbeiterschaft. Der Preis dafür war hoch: wichtige Industriezweige wurden nicht verstaatlicht.

 

Der Magistrat setzte zudem die Beschlüsse des Rates der Volksbeauftragten in Berlin (also der der provisorischen Regierung) um: die Einrichtung einer Erwerbslosenfürsorge im Dezember 1918, den Achtstundentag am 1. Januar 1919 und den Maifeiertag 1919.

 

Die Freien Gewerkschaften verzeichneten nach dem Krieg in Göttingen einen enormen Mitgliederzuwachs, da sich nun auch die Arbeiter der Eisenbahn und der Stadt in ihnen organisieren konnten. 1919 waren in Göttingen etwa 8000 Arbeiter gewerkschaftlich organisiert, die Zahl hatte sich allerdings bis 1924 wieder halbiert. Ab dem Herbst 1919 fanden in Göttingen wieder verstärkt Streiks statt, bei denen es meist um Lohnforderungen ging.

Göttinger Zeitung, 06.03.1919: Demonstration in Göttingen. StA Göttingen
Göttinger Zeitung, 06.03.1919: Demonstration in Göttingen. StA Göttingen

Anfang März 1919 wurden reichsweite Streiks für eine Verstaatlichung der Schlüsselindustrien sowie die für Einführung des Rätesystems ausgerufen. In Berlin kam es dabei zu schweren Kämpfen, vor allem im Stadtteil Lichtenberg. In Göttingen hatte sich die Ortsgruppe der KPD gerade erst gegründet, die USPD war erst auf dem Weg zu einem höheren Stimmanteil in Göttingen. Deswegen dominierten in er Stadt auch andere Themen: die meisten Forderungen der Demonstration am 6. März bezogen sich auf die immer noch prekäre Versorgungslage.

Forderungen der Göttinger Arbeiterschaft am 6. März 1919. StA Göttingen
Forderungen der Göttinger Arbeiterschaft am 6. März 1919. StA Göttingen

Postkarte: Rosa Luxemburg (1871-1919) 1919, Verlag der KPD. StA Göttingen
Postkarte: Rosa Luxemburg (1871-1919) 1919, Verlag der KPD. StA Göttingen

Die provisorische Regierung, der Rat der Volksbeauftragten, verkündete am 12. November 1918 einen Aufruf mit Gesetzeskraft. Dieser Aufruf beinhaltete u.a. die Einführung des 1. Mai als gesetzlichen Feiertag. Allerdings kam es aufgrund der Mehrheitsverhältnisse in der Weimarer Nationalversammlung in der Abstimmung am 15. April nur zu einem Beschluss, den 1. Mai nur für das Jahr 1919 zu einem solchen zu erklären. 

 

Erst in der NS-Diktatur wurde der 1. Mai als „Tag der nationalen Arbeit“ dann endgültig zum gesetzlichen Feiertag.
Die Göttinger Arbeiterschaft feierte den 1. Mai mit Umzügen und Reden (immer von der Polizei beobachtet: Polizeibericht), der Tag wurde auf dem Rohns mit Tanz beendet. Zu diesem Anlass gedachte man den ersten Märtyrern der Revolution bzw. Opfer reaktionärer Kräfte: Anstecknadeln mit den Porträts von Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Kurt Eisner wurden am Revers getragen.
9. November 1919: Das Göttinger Volksblatt feiert die Revolution. StA
9. November 1919: Das Göttinger Volksblatt feiert die Revolution. StA

Die Errungenschaften der Revolution waren bedeutend: Grundsteine wurden gelegt für eine demokratischere Gesellschaft. Ein neues Wahlrecht eröffnete den Frauen die Möglichkeit der politischen Partizipation, der Weg zur Emanzipation war gleichwohl noch weit. In großen Teilen der Gesellschaft herrschte eine eher indifferente Haltung gegenüber der Revolution. Dass sie den Krieg beendete hatte, wurde von der überwiegenden Mehrheit begrüßt. Viele hingegen bedauerten den Verlust des Kaisers. Große Zustimmung fand sich allein in der Arbeiterschaft, die unmittelbar von den Fortschritten profitierte (s.o.)

Festwagen des DMV zum 1. Mai 1923. Sammlung Dr. Joachim Bons
Festwagen des DMV zum 1. Mai 1923. Sammlung Dr. Joachim Bons

Zeitzeugen

 

 

Ernst Fasshauer, geboren 1900, war Schneidermeister. Er war gewerkschaftlich engagiert, aber parteilos.

(...) ich war weiterhin Schneider, war Gehilfe geworden und war im Verband, und da hatten wir genug zu tun, daß wir unsere Löhne wieder richtig bekamen und streikten usw.. Ich bin lange Jahre im Verband gewesen und war zuletzt 1. Vorsitzender, bis er dann 1933 aufgelöst wurde.

(Können Sie dann etwas von Schneiderversammlungen erzählen?)

Die Versammlungen unserer Gewerkschaft waren hier in der Kaiserhalle, wo jetzt die Mensa drin ist. Ich hatte mit meinem Meister Krach bekommen, es wurde gerade die 48-Stunden-Woche verlangt oder der 8-Stunden-Tag, und dann mußten wir länger arbeiten. Als ich nun zum Meister sagte: "Ab Morgen arbeite ich nur noch 8 Stunden, da machte er großen Klamauk, weil ich junger Gehilfe war, und schimpfte furchtbar. Ich sagte: „Ich verdiene natürlich gern Geld, aber wenn der 8-Stunden-Tag verfügt worden ist, dann muß es den 8-Stunden-Tag geben." Der Meister drehte das bei Lohnverhandlungen um und sagte: "Meine Gesellen verdienen lieber Geld, als daß sie 8 Stunden arbeiten." Da habe ich sofort am anderen Tag gekundigt. Er drohte mir an: "Ich sorge dafür, daß Sie hier keine Arbeit wiederbekommen." Am nächsten Tag hatte sich aber schon wieder Arbeit.

(Popplow 1975, S. 720)

 

Hermann Fraatz, geboren 1883, war der Sohn eines Schmieds. Er selbst lernte Drechsler und arbeitete bei Kriegsbeginn im Reichsbahnausbesserungswerk. Seit 1903 war er SPD-Mitglied, wechselte 1918 zur USPD und schloss sich 1922 der KPD an. Für diese saß er ab 1928 im Rat.

Ich stamme aus einer sehr armen Familie. Die Lehre als Holzdrechsler war sehr hart gewesen. Nach der Militärzeit wechselte ich zum Metall über und ging zur Reichsbahn als Dreher. In der Drechslerei, in der ich vorher gewesen bin, waren alle, vom Meister bis zum Lehrling, einheitlich gewerkschaftlich organisiert gewesen. Bebels Bild hing groß an der Wand. Bei der Reichsbahn waren damals nur die Hirsch-Dünkersche Gewerkschaft vertreten und erlaubt. Die Mitglieder dieser Gewerkschaft durften keine Sozialdemokraten und keine freien Gewerkschaftler sein. Die Arbeitgeber mußten auf schwarzen Listen angeben, in welcher Gewerkschaft jeder Arbeiter war oder ob er Sozialdemokrat war. Dabei sollten die Eisenbahner in den Verband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie eintreten

 

Als ich am 21. November 1918 nach Göttingen zurückkam, habe ich gleich bei der Eisenbahn weitergearbeitet. Viele Handwerker, die wie ich bei der Bahn arbeiteten, traten in die freie Gewerkschaft "Deutscher Eisenbahner Verband" ein. Ich habe mit 17 Mann die Gewerkschaft hier in Göttingen gegründet . Als Betriebsratsvorsitzender war ich von der Arbeit freigestellt.

 

(Frage: Haben Sie Holdscher gekannt? Bei einer Versammlung taucht sein Name als Vertreter der Eisenbahnwerkstätten auf.)

Herr Holdscher war auch Mitglied des Betriebsrats. Aber er war nicht treu. Er war nicht gut, und ich habe ihn aus dem Betriebsrat ausgeschlossen. 1933 schraubte er dann jedem Schlosser eine Hakenkreuzfahne in den Schraubstock - zu einem Zeitpunkt , als die Arbeiter nicht da waren.

 

(…) Unsere Gewerkschaft setzte das Betriebsrätegesetz durch, auch den 8-Stunden-Tag, jeder Arbeiter bekam einen Tarifvertrag mit festgesetztem Lohn, und es gab die Koalitionsfreiheit. Wir waren sehr zufrieden, und die Mitgliederzahl stieg.

 

(…) Wir hatten keinen engen Kontakt zur bürgerlichen Schicht. Bei Versammlungen sprach jedoch immer ein Arbeitervertreter und ein Universitätsvertreter. Es wurden auch alle Schichten unter Bürgermeister Calsow vereinigt. Das führte Bürgermeister Jung fort. Wir haben mit den freien Demokraten immer Zusammengearbeitet und sie auch bei Wahlen unterstützt.

 

Während des Krieges war die Mehrzahl der Arbeiter antisozialdemokratisch gewesen. Als ich nach Göttingen zurückkam, hat sich das schlagartig geändert. Es gab keine Streitigkeiten zwischen den Arbeitern Wegen politischer Dinge.

Ich bin der Ansicht , nur wenn die Arbeiterschaft zusammenhält, erreicht sie auch etwas. Wir waren damals befriedigt, denn wir hatten gemeinsam gekämpft.

 

Im Mai 1919 haben wir einen Zug vom Ausbesserungswerk zum E-Werk gemacht und nahmen alle Arbeiter mit , die Partei war dabei egal. Auch die Stadtverwaltung marschierte mit. Doch bei aller Zusammenarbeit habe ich ein Entgegenkommen der Sozialdemokraten vermißt.

 

(...) Zwischen den Kommunisten und Sozialdemokraten bestand am Arbeitsplatz Einigkeit. Die USPD hatte sich aufgelöst. Eine ähnliche Situation bestand auch im Stadtparlament und in allen Betriebsräten. Nach der Gründung der KPD gab es noch immer keinen Konflikt mit KPD-Arbeitern. In Berlin und Sachsen schoß man aufeinander, hier war das nicht der Fall. Wir waren uns einig. Die SPD war auf unserer Seite. Wir hatten keine abweichende Meinung über die Form des Staates. Die Forderungen um die Neubildung eines Staates sind mehr von Berlin ausgetragen worden, das fand in Göttingen keinen Durchschlag.

 

Ich war der Vertrauensmann der Arbeiter. Wir haben viele aktive Sachen durchgesetzt. Ich habe allein vier Werksdirektoren dazu gebracht, sich versetzen zu lassen. Ich habe es so weit getrieben, daß in einem Fall der Verkehrsminister Groener nach Göttingen gekommen ist . Unser damaliger Werkdirektor Köpper konnte die Zeit nach dem Kriege überhaupt nicht verstehen. Er war ein Faschist durch und durch. An jeden Anschlag machte er eine Randbemerkung.

 

Bei einer Hochzeit von Bauern sagte er, Sie wären erst durch die rote Regierung zu Besitz gelangt.

 

Er ließ Handwerker des Betriebes für seine eigenen Zwecke arbeiten. Wir haben das beanstandet. Wir haben uns an den Betriebsrat gewandt. Ich bin nach Berlin gefahren. Unsere damaligen Gewerkschaftler waren viel mehr auf der Hut als heute und gingen den Dingen nach. Ein Bezirksleiter brachte diese Angelegenheit in den Reichstag. Daraufhin kam Herr Groener zu uns in den Betrieb. Der Betrieb war ziemlich Vernachlässigt worden. Unser Direktor wurde nach Dresden versetzt.

 

Pfingsten 1919 hatten wir Ärger mit dem Werkdirektor. Wir hatten zu einer Werksammlung aufgerufen. Der Werkdirektor ordnete an, die Plakat abzureißen. Wir beriefen den Betriebsrat ein und beschlossen, die Arbeit niederzulegen. Es kamen verschiedene Regierungsbeamte und der Bezirksbetriebsrat. Ich forderte, daß der Direktor für zwei Jahre versetzt werden sollte, da er die Zeichen der Zeit noch nicht verstanden hätte und ich als Betriebsratsvorsitzender mit ihm nicht zusammenarbeiten könne. Die Vorgesetzten waren meistens Offiziere gewesen, die bekanntlich nicht sehr fortschrittlich dachten. Nach zwei Tagen Streik fuhren die Vorgesetzten ab und kamen nicht wieder.

(Popplow 1975, S. 726 - 728)

 

G., H. wurde 1905 geboren. Zur Zeit der Novemberrevolution war er noch Schüler. Der Beruf seines Vaters war Maurerpolier, seit 1903 Mitglied der SPD. Er selbst wurde später städtischer Beamter und trat 1927 in die SPD ein.

(…) Am 25. April 1919 kam ich in die Lehre. In Bezug auf die Gewerbeschule hatte sich einiges verbessert. Ich brauchte sonntags nicht mehr zur Schule. Kurze Zeit später fiel die Schule dann in Arbeitszeit. Das waren für den Lehrling enorme Verbesserungen, da er keine Freizeit hatte. Für mich kam eine doppelte Umstellung. Erst die Schule, dann die Lehre! Wäre ich schon in der Lehre gewesen‚ so könnte ich alles besser beurteilen.

 

Das "Göttinger Tageblatt" war die Zeitung des Arbeiters. Die "Göttingen Zeitung" wurde von der akademischen Welt Göttingen gelesen. In der Schule fielen jetzt die Geburtstage des Kaisers weg, zu denen wir immer mit besonderen Matrosenanzügen hatten antreten müssen, ebenso wie die Sedanfeiern am 2. September. Das damalige Gewerkschaftshaus wurde in die "Kaiserhalle" umbenannt. Ich, als Lehrling, kam in die Metallarbeiterschule. Ich habe du an einer Versammlung teilgenommen, in der über Lohnverhandlungen diskutiert wurde. Die Versammlung wurde in der "Kaiserhalle" abgehalten und es wurde Streik gefordert. Auf der Bühne stand der Schwertfegermeister Borchardt und sagte, wir sollten den Streik nicht anzetteln‚ denn wir müßten ihn ohne Erfolg wieder abbrechen. Wir beschlossen aber trotzdem zu streiken. Nach vier Wochen wurde der Streik wirklich abgebrochen, ohne Erfolg gehabt zu haben. Wir Lehrlinge waren von dem Streik begeistert gewesen, weil wir nicht zur Arbeit brauchten. Wir hatten aber keine politische Einsicht gehabt. Wir hatten auch keine Angst, durch den Streik unsere Arbeit zu verlieren. Die Angst, die es im Kaiserreich gegeben hatte, war abgelegt. Man war selbstbewußter geworden. Man konnte jetzt Forderungen stellen, ohne daß die Versammlung von einem Polizisten abgebrochen wurde. Die Polizei selbst bekam eine andere Uniform. Außerdem erhielt sie jetzt bei den Demonstrationen besondere Aufgaben, die sie vorher nicht gekannt hatte.

(Popplow 1975, S. 743)

 

Fritz Hecke, Jahrgang 1899, war der Sohn eines Landarbeiters. Er arbeitete als Tischler und trat 1918 der SPD bei.

Ich bin 1918 eingezogen worden und kam in ein Rekrutendepot in Frankreich. An die Front wurde ich allerdings nicht geschickt, da ich erkrankte. Auf dem Rückmarsch kam ich am 19. November 1918 in Hannover an. Dort bemerkte ich die Matrosen, die in dem Stadtbild von Hannover deutlich in Erscheinung traten. Dann kam ich nach Oldenburg, wo ich die erste Wahl nach der Revolution miterlebte. Ich war noch nicht zwanzig Jahre alt und konnte deshalb noch nicht wählen. In Oldenburg setzte man uns als Wachen auf dem Bahnhof ein, um Schießereien und Plünderungen der Depots zu verhindern. In der Einheit in Oldenburg gab es auch einen Soldatenrat. Im Februar 1919 bin ich entlassen worden.

 

(…) In Göttingen begann ich dann wieder, als Tischler in der Pianofortefabrik am Leinekanal zu arbeiten. In diesem Betrieb mit 140 Arbeitnehmern war ich schon vor meiner Einberufung kurze Zeit beschäftigt gewesen. In meinem Arbeitsverhältnis hat sich also nichts verändert.

 

(Frage: Hat sich das Betriebsklima in dieser Fabrik verändert?)

In unserer Fabrik wurden mehrere Vertreter der Belegschaft und ein Arbeitgebervertreter als Betriebsrat gewählt. Diese Vertreter gehörten nicht immer einer Partei an, sie waren aber auf jeden Fall Gewerkschaftsmitglieder. Es war aussichtslos, Arbeit zu finden, ohne Mitglied einer Gewerkschaft zu sein. Ich gehörte dem Holzarbeiterverband an. Wurde mehr Lohn gefordert, dann war es dieser Verband, er entschied, ob gestreikt werden sollte, und der dann seine Mitglieder unterstützte.

 

(Frage: wie war das Verhältnis zwischen den Mitgliedern der verschiedenen Parteien innerhalb des Betriebes?)

Es gab nur Anhänger der SPD und der USPD, die KPD trat kaum in Erscheinung. Zwischen ihnen waren keine Meinungsverschiedenheiten zu bemerken.

 

(…) Das gesellschaftliche Leben änderte sich kaum. Nur auf den Parteiversammlungen kam es öfter zu Streitereien. Die Versammlungen waren damals etwas heftiger als heute. Es ging dabei um die Arbeiter, die keine materiellen Forderungen stellten, sondern gehört werden und mitbestimmen wollten, wobei sie auf Widerstände der Unternehmer und der bürgerlichen Parteien stießen. Das machte sich auch bei Lohnforderungen bemerkbar, die die Unternehmer immer wieder zu verhindern suchten. Der Arbeiter wurde nicht als gleichwertig geachtet, und man ließ ihn nicht so weit aufsteigen, wie das heute ist.

 

(Frage: Gab es auf diesen Parteiversammlungen eine akademisch vorgebildeten Redner, der sich Ihre Auffassungen zu eigen gemacht hätte?)

Nein, es war nicht üblich, daß sich Adademiker zur SPD bekannten, außer denen, die täglich mit Politik zu tun hatten.

 

(Frage: Auf welche Art und Weise haben Sie sich informiert? Waren das Göttinger Zeitungen, oder war das Parteimaterial?)

Die einzelnen Orte hatten ihre Wahlvereine, in denen die Marschrichtung für die Wahlen zur Nationalversammlung und den Kommunalwahlen festgelegt wurde. Das erfolgte in den Versammlungen und nicht so sehr über die örtliche Presse. Es gab ja nur das "Göttinger Tageblatt", eine alteingesessene Zeitung, die Gewerkschaftszeitung "Volksblatt" und die "Göttinger Zeitung", die demokratisch eingestellt war.

 

(…) Wir hofften, daß sich das Leben der Arbeiter ändern würde. Aber wir merkten auch, daß die Bürgerwehr, in der sich Bürgerliche zusammengeschlossen hatten, dies verhindern wollten. Der Unterschied zwischen den Arbeitern und den Bürgerlichen war noch größer als heute, und die Bürgerlichen glaubten auch, daß sie mit den Arbeitern nicht paktieren konnten. Auch die Bauern nicht, denn das waren meistens Deutschnationale. Die SPD hatte einen schweren Stand, und dann kamen auch noch die Schwierigkeiten mit der USPD und später mit der sich etablierenden Kommunistischen Partei hinzu. Es bestand somit eine Abkapselung zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen Bürgertum, Arbeiter und Bauern. Die Bauern standen in ihrer politischen Haltung eher den Bürgertum, also der DVP oder DNVP näher. (...)

 

(Frage: wie dachte man in Ihrem Elternhaus über die damaligen Verhältnisse?)

Mein Vater war Landarbeiter. Ich würde ihn als Deutschnationalen einstufen, obwohl sich die Leute damals bei ihrem Bewußtseinsstand selbst nur schwer einschätzen konnten.

 

(Frage: Gab es zwischen Ihnen und Ihrem Vater unterschiedliche politische Auffassungen?) Ja, weil wir in der Frage des Streiks grundsätzlich verschiedener Meinung waren.

 

Ich ging damals in die SPD und in den Wahlverein; das berührte meinen Vater wenig, zumal es zu Hause auch nicht zur Sprache kam. Als ich dem Arbeitergesangverein beitreten wollte, sprach sich mein Vater dagegen aus. Man war damals in dem Wahn, weil man Bauer sei, könne man sich nicht mit Arbeitern auf eine Stufe stellen.

 

Eine Geschichte am Rande: Mein Vater meinte, daß Kommunisten alles teilen wollten, meine Mutter jedoch war anderer Meinung und sagte, daß sie ruhig teilen sollten, dann bekämen wir ja noch etwas dazu. Sie war aufgeschlossenen. Das beruhte darauf, daß sie täglich mit wirtschaftlichen Nöten zu kämpfen hatte. Wir waren eine zehnköpfige Familie, und alle Geldangelegenheiten wurden von ihr geregelt.

 

(Frage: Hatte sie deshalb auch eher Verständnis für die soziale Lage der Arbeiter?) Ja, wenn man sich vor Augen hält, daß mein Vater im Winter wöchentlich 12 Mark und im Sommer 15 Mark bekam, er aber andererseits dafür schon morgens um 5 Uhr aufstehen mußte und erst gegen 20 Uhr zurück war.

 

Wirtschaftlich hat sich daran erst 1928 etwas geändert, zumindest aber gelang es durch Organisierung in der Landwirtschaft ein Einkommen von 25 Mark zu erreichen.

(Frage: Gab es auf den Dörfern Bauernräte?)

Nein, nicht in Göttingen-Geismar. Trotz erheblicher Unterschiede fühlten sich die Bauern als Gemeinschaft. Ein kleiner Bauer fühlte sich eher zu den großen Bauern hingezogen, als daß er sich mit den Arbeitern auf eine Stufe gestellt hätte. Dabei spielt eine Rolle, daß sie Eigentum hatten, auch wenn es noch so klein war. Die Sozialdemokraten wurden noch als Männer mit der Ballonmütze angesehen. Ließ sich jemand von ihnen bei den Kommunalwahlen aufstellen, sagte man ihn nach, daß er ja gar nicht mitreden könne, weil er keine Steuern zahle.

 

(Frage: Sind Sie damals zur Arbeit nach Göttingen gefahren?) Ja. Wir hatten in Geismar kein Gewerbe außer zwei Schmieden und Stellmachern. Deshalb mußten wir nach Göttingen.

 

(…) Einige Leute, die aus weiter entfernten Orten wie etwa Ebergötzen kamen, mußten sich sogar Zimmer nehmen.

 

(Frage: Gab es Unterschiede in der Arbeitszeit vor und nach dem Zusammenbruch?)

Als ich lernte gab es noch den Zehn-Stunden-Tag. Wir mußten von 6 bis 18 Uhr arbeiten und hatten jeweils halbstündige Pausen zum Frühstück, zu Mittag und zur Vesper. Nach 1918 gab es sofort den Acht-Stunden-Tag. Später kam dann noch das verlängerte Wochenende hinzu.

 

(Frage: Nahm man in Göttingen an weiterreichenden Geschehnissen Anteil, die in Berlin etwa von Ebert und Scheidemann bestimmt wurden?)

Scheidemann und Ebert sind auch nach Göttingen gekommen. Scheidemann war des öfteren in Göttingen, da er aus Kassel stammte. Sie waren für uns die führenden Männer, die auf öffentlichen, sehr lebhaften Wahlversammlungen auftraten.

 

(Frage: Veranstalteten SPD und USPD die Maifeier als Einheit?)

Die Maifeiern wurden nur von den Gewerkschaften organisiert und beeindruckten mich damals sehr.

 

(Frage: Wissen Sie noch etwas über die Gebäude, in denen die Gewerkschaft sich niedergelassen hat?)

Früher gab es die Kaiserhalle in der heutigen alten Mensa am Wilhelmsplatz. Sie enthielt Büros, und es wurden dort Versammlungen abgehalten. Später entstand das Gewerkschaftshaus am Maschmühlenweg‚ das dann in "Volksheim" umgetauft wurde.

 

(Frage: Haben Sie etwas davon gehört daß Soldaten am 8. November durch Göttingen marschiert sind und am Gewerkschaftshaus ihre Waffen abgegeben haben?) Die Waffen wurden im Gewerkschaftshaus abgegeben, weil die Kaiserhalle dafür zu klein war. Im übrigen kann ich dazu nichts berichten.

(Popplow 1975, S. 750 – 755)

 

Karl Hoffmann war 1918 31 Jahre alt. Sein Vater war Optiker, er selbst Feinmechaniker. Hofmann wurde Mitglied der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Partei.

(…) Ich habe nur in unangenehmer Erinnerung, daß die Gewerkschaften, die damals doch sehr klein waren, namentlich die jungen Leute aufforderten, in die Gewerkschaft einzutreten. Aber als freier Demokrat konnte ich doch nicht in die sozialdemokratische Gewerkschaft eintreten. Ich bin daher in die Hirsch-Dunkersche-Gewerkschaft (Vorbild: Englische Gewerkvereine) gegangen. Das war eine freisinnige Organisation, die genau wie alle anderen Gewerkschaften auch Mitte des letzten Jahrhunderts gegründet worden war. Meinen älteren Arbeitskollegen habe ich von der Organisation berichtet. Daraufhin sind sie dann ebenfalls dort eingetreten.

 

(Frage: Wissen Sie von Versammlungen in Göttingen? )

Von Versammlungen ist mir eigentlich nichts bekannt. In Göttingen war es ja so ruhig.

 

(…) Ich selbst wurde einmal von den Ereignissen betroffen, als die Arbeitskollegen, die Sozialdemokraten waren, forderten, daß wir in die freien Gewerkschaften gingen. Das haben wir natürlich einmütig abgelehnt. Da wollten die Kollegen streiken. Es wurde ein Ultimatum von vierundzwanzig Stunden gestellt. Wenn wir innerhalb dieser Zeit nicht übertreten würden, sollten wir entlassen werden. Wir aber wollten lieber die Konsequenzen tragen, als gegen unsere politische Auffassung handeln. Als es dann hart auf hart ging, entschloß sich die Firma aber doch, uns weiterhin zu behalten, denn sie wollte nicht gute Arbeitskräfte verlieren. Sie haben damals also einen schmählichen Rückzug gemacht.

 

(…) Durch die Revolution hat sich eigentlich nichts verändert. Bei Winkel hatten wir doch alles. Den 8 Stunden-Tag, schönen Urlaub und drei Tage bezahlten Urlaub zwischen Weihnachten und Neujahr wegen der Inventur.

 

(…) Bei uns in der Straße wohnten viele Eisenbahner. Sie waren alle in der Gewerkschaft. Doch durch die ganzen Ereignisse trat die gesamte Gewerkschaft " Deutsche Eisenbahner, Handwerker und Arbeiter" plötzlich in die freien Gewerkschaften ein. Und alle Arbeiter gingen mit. Auf einmal waren sie dann Sozialdemokraten. Die Frauen dieser Leute waren davon gar nicht begeistert.

(Popplow 1975, S. 758 - 759)