Göttinger Tageblatt, 10. November 1918
Göttinger Tageblatt, 10. November 1918

Revolution in Göttingen

 

„Auffallend waren die häufigen Menschenansammlungen am Geismartor. Es wurde lebhaft diskutiert. Einen solch regen Meinungsaustausch hatte es vor der Revolution nicht gegeben.“ (Zeitzeuge)

 

Eine Woche nach den ersten Matrosenräten organisierte sich in der Göttinger Garnison ein Soldatenrat. Am folgenden Tag, Freitag, den 8. November, versammelten sich Soldaten auf dem Markt, trugen rote Bänder an den Uniformen. Abends wurden Kontakte zu Vertretern der Arbeiterschaft aufgenommen. Am nächsten Tag gab es Versammlungen und Umzüge, nachmittags wurde im Bürgerpark ein Volksrat (kein Arbeiterrat!) gewählt. Sieben Soldaten und fünf Zivilisten bildeten ab dem 9. November den Soldaten- und Volksrat. Der stellvertretende Garnisonsälteste sowie Oberbürgermeister Calsow unterstützten den neuen Rat. Einen Tag vor dem Waffenstillstand, am Sonntag, den 10. November, wehten vom Rathaus zwei große rote Fahnen.


„Die roten Fahnen wurden ohne weiters aus den auf dem Rathausboden liegenden schwarz-weiß-roten Fahnen herausgeschnitten. Mehrere andere rote Fahnen wurden aus dem Bestande hergestellt. An einer Stelle wird die türkische Fahne nach Beseitigung des Halbmondes mit benutzt.“ Göttinger Chronik

 

Alles vollzog sich fast gewaltlos, von ein paar Rempeleien abgesehen. Der Kaiser hatte abgedankt. Das Programm hieß: „Ruhe und Ordnung“. Der Soldaten- und Volksrat bezog ein Geschäftszimmer im Rathaus, seine Mitglieder bekamen Gehälter. Die Bevölkerung hielt ihn eine Zeitlang für die „Regierung“. Aber der Rat unterstützt und kontrollierte nur, entsandt nun 2 Vertreter zu den Magistratssitzungen. Dessen Beschlüsse und Entscheidungen wurden durch drei Mitglieder des Soldaten- und Volksrats gegengezeichnet. Die Entscheidungen aber lagen weiterhin bei Oberbürgermeister Calsow und der Stadtverwaltung. Ab dem 26. November hieß der Rat Arbeiter- und Soldatenrat. Das öffentliche Leben wurde bestimmt von politischen Versammlungen, Demonstrationen und Reden. Politik fand wahrscheinlich zum ersten Mal in Göttingen zu einem guten Teil auf der Straße statt.

Der Soldaten- und Volksrat

 

Dem urprünglichen Volksrat gehörten an: der Buchbinder Hans Kargl (USPD), der Chemiestudent Kurt Baumann (USPD), der Schriftleiter Ernst Kelterborn, der Schuhmachermeister Wilhelm Stegen (SPD) und der Cigarrenhändler Fritz Wedemeyer (SPD). Das Soldatenratsmitglied Ernst Gutmann wurde als erster Vorsitzender des Göttinger Soldaten- und Volksrats gewählt.

Kaiserhalle am Wilhelmsplatz, bevorzugter Versammlungsort der Gewerkschaften und Sozialdemokraten. StA Göttingen.
Kaiserhalle am Wilhelmsplatz, bevorzugter Versammlungsort der Gewerkschaften und Sozialdemokraten. StA Göttingen.

Relativ schnell gab es personelle Veränderungen im Soldaten- und Volksrat. Bereits ab dem 13. November sollten nunmehr nur noch Mitglieder der beiden sozialdemokratischen Parteien aufgenommen werden. Ernst Kelterborn verabschiedete sich am 12. November, damit verließ ein dezidiert bürgerlicher Vertreter den Rat. Einen Tag später versammelten sich Sozialdemokraten, Freie Gewerkschaften und Soldaten zur Zuwahl zum Soldaten- und Volksrat in der Kaiserhalle. Drei Zivilisten und vier Soldaten wurden gewählt, die Gesamtzahl stieg so auf 8 Soldaten und 7 Zivilisten. Die Stimmung war optimistisch bis kämpferisch, die Göttinger Zeitung schloss: „Wohl jeder hat gestern abend die Ueberzeugung mit heimgenommen, daß es rastlos vorwärts geht in Göttingen!“

Emma und Hans Kargl (1884-1960), 1915. Walter Kargl, Hanau.
Emma und Hans Kargl (1884-1960), 1915. Walter Kargl, Hanau.

Plakat zur Verhaftung Gutmanns, 26.11.1918. StA Göttingen
Plakat zur Verhaftung Gutmanns, 26.11.1918. StA Göttingen

Einen handfesten Skandal gab es durch die Verhaftung des Vorsitzenden Ernst Gutmann am 26. November. Er hatte am Morgen im Namen des Soldaten- und Volksrats ein Plakat anschlagen lassen, auf dem zur Ablösung der Provinz Hannover von Preußen aufgerufen wurde. In der Sitzung abends zuvor war er für sein geplantes Plakat von Deneke und Hildebrandt angegriffen worden und die deutliche Mehrheit des Soldaten- und Volksrats hatte sich dagegen ausgesprochen. Der Rat justierte in der Folge seine Struktur neu und nannte sich fortan Arbeiter- und Soldatenrat.

 

Das Geschäftszimmer des Arbeiter- und Soldatenrats befand sich im Stadthaus (heute Stadtbibliothek), Zimmer 20. Man bemühte sich um einen Apparat zur Funkentelegrafie, lieh sich eine Schreibmaschine. Zwei Stenotypistinnen, Else Merten und Frieda Rohpeter, arbeiteten dort und wurden von 7 Bürogehilfen bzw. Ordonanzen unterstützt.
(Mehr zum Arbeiter- und Soldatenrat)

Zeitzeugen

 

Konrad Büsing, geboren 1905, war Schüler des Königlich-preußischen Gymnasiums. Sein Vater war Königlich-preußischer Beamter an der Universität.

Aber ich weiß noch, eines Tages hörten wir ein großes Gemurmel. Ich blickte aus dem Fenster und sah eine große Menschenmenge, vorne weg einer mit einer roten Fahne aus Kreppapier. Aus der entgegengesetzten Richtung kamen Soldaten, die rissen sich die Achselstücke ab und steckten sich eine rote Kokarde an. Da dachte ich : "Das ist die Revolution!" Ich wollte das Fenster aufreißen und hinausbrüllen: "Ihr Schufte, Ihr zerstört unser Deutschland ! " Aber mein Vater hielt mich davon ab. (…)

 

Auguste Gemmecke, geboren 1891, wohnte in Grone. Ihr Vater war Schlosser.

(…) Unser Bürgermeister von Grone wurde gestürzt. Er wurde von den Arbeitern abgesetzt. Sie sind hingegangen und haben ihm einfach alles weggeholt. Der Bürgermeister war Bauer. "Jetzt regieren wir! Geben Sie alles her", sagten die Arbeiter. Sie brachten seine Sachen auf das Gemeindebüro, vor allem Bücher, und wählten einen neuen Bürgermeister namens Heinrich Hampe. Dieser war rot eingestellt. Das ganze hat sich vor Weihnachten 1918 abgespielt.

 

Heinz Kelterborn, geboren 1906, war der Sohn des Verlegers und Geschäftsmannes Ernst Kelterborn, der zu den prominenten Mitgliedern der NSDAP in der Stadt zählte. Heinz wurde Amtsrichter.

Ich war damals Quartaner auf dem heutigen Max-Planck-Gymnasium. Da meine Eltern beide im Geschäft in der Jüdenstraße arbeiteten, ging ich mittags auf dem Umweg über die Jüdenstraße mit ihnen zur Wohnung im Feuerschanzengraben. Als wir am 9. November 1918 nach Hause gingen und an der Alten Kaserne vorbeikamen, begegnete uns ein Geismaraner, der rief: "Ernst, Ernst, wir wollen jetzt Revolution machen! Du mußt sofort mitkommen." Mein Vater drehte sich um und verschwand. Ich ging mit meiner Mutter nach Hause. Alles übrige weiß ich nur aus den Erzählungen meines Vaters.

(…) Er nahm das (die neusten Zeitungen) dann mit und ging in den Maschmühlenweg zum "Bürgerpark". Dort war die Versammlung, und jeder, der sprach, wurde in den Rat gewählt. Mein Vater sprach natürlich auch und wurde also auch gewählt. Er sagte dann, und das ist die Besonderheit von Göttingen: "Wir wollen doch nicht das gleiche haben wie bisher, Klickenwirtschaft oder Ständewirtschaft. Arbeiter- und Soldatenrat ist doch wohl nicht das richtige; es müßte das ganze Volk sein." Deshalb haben wir in Göttingen keinen Arbeiter- und Soldatenrat, sondern einen Volks- und Soldatenrat gehabt.

 

Zoe Krieg war zur Zeit der Revolution 14 Jahre alt. Ihr Vater war Jurist, sie selbst arbeitete als Sachbearbeiterin.

Ich erlebte die Revolution als Schülerin. Erinnerungen habe ich vor allem noch an den Wirbel im elterlichen Haus. Mein Vater - Dr. Otto Deneke - (1875-1956) - war Sozialdemokrat und Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats‚ meine Mutter galt als Kommunistin. Das war sie, die aus wohlhabendem Hause stammte, aber nicht. Sie half nur den sozial Hilfsbedürftigen‚ und das reichte aus, sie politisch so zu etikettieren. Meine Schwester und ich waren übrigens national eingestellt. Da mein Vater im Arbeiterrat das Bildungswesen zu betreuen hatte, ging es bei uns wie im Taubenschlag zu. Einer drückte dem anderen die Türklinke in die Hand, und allen versuchte mein Vater zu helfen. Dabei hatte er einen lebhaften Erfahrungsaustausch mit den Professoren Hatschek‚ Schulz und Eßlen sowie mit dem städtischen Angestellten Brüller.

 

Wilhelm Peine, Jahrgang 1901, besuchte noch die Schule. Sein Vater war Vorstand in einer Reichsbanknebenstelle, er selbst wurde Bankdirektor.

 Es gab auch kein Verwaltungschaos, nachdem der Kaiser abgedankt hatte, denn alle Beamten behielten ihren Posten. Ich wüste nicht, das jemand davongejagt worden wäre. Damals war hier der höchste Beamte der Landrat Mannkopff. Er hat sein Amt weiter wahrgenommen. Unser Bürgermeister Calsow blieb auch in seinem Amt. Es blieb alles mehr oder weniger wie vorher, deshalb lief alles reibungslos.

 

Willi Reinhard war zur Zeit der Revolution 14 Jahre alt. Er erlernte den Beruf eines Bäckers und trat 1926 in die SPD ein.

Die Polizei war aufgelöst worden, und an ihre Stelle waren Soldaten getreten. Diese führten zu zweit ihre Kontrollgänge durch, und zwar unbewaffnet. Sie trugen als Kennzeichen rote Armbinden. Diese wie auch andere rote Kennzeichen gehörten zum Auffallendsten der ersten Revolutionstage. Eine weitere wesentliche Veränderung Tag in dem Umgang der Soldaten untereinander. Man kannte keine Offiziere mehr. Es gab sie zwar noch, erkennbar an ihren Uniformen, aber man respektierte sie nicht mehr als solche, sondern sah in ihnen Soldaten gleichen Standes. Mitunter gab es auch Revancheakte für vorangegangene Schleifereien, das aber nicht am Tags, sondern im Schutz der Dunkelheit.

(…) Konkrete Eindrücke aus den ersten Revolutionstagen habe ich auch von den Arbeiter- und Soldatenräten. Die hatten das Stadthaus besetzt und verfügten von dort aus, was zu machen war. Das ging mitunter nicht ganz reibungslos, weil sie Vertreter des Soldatenrats häufig wechselten und die neu Hinzugekommenen dann das große Wort schwingen wollten. Äußerlich konnte man sie an ihren Armbinden mit der Aufschrift "Arbeiter- und Soldatenrat" erkennen. Ich habe eine Reihe der Arbeitervertreter gut gekannt, die dann auch später Mitglieder des Stadtrats geworden sind: Wittorf, Kelterborn, Wedemeyer - er war ein Freund meines späteren Schwiegervaters -, Arnholdt und Kahn.

(…) Auffallend waren die häufigen Menschenansammlungen am Geismartor. Es wurde lebhaft diskutiert. Einen solch regen Meinungsaustausch hatte es vor der Revolution nicht gegeben. Vom Geismarer Tor gingen auch die vielen Märsche demonstrierender Soldaten aus, manchmal in ganz kleinen Gruppen. Häufig marschierte der Arbeiter- und Soldatenrat vorweg. Straff militärisch war das nicht. Man hatte im Gegenteil den Eindruck des Ungezwungenen, Aufgelockerten. Passantengruppen wurden nicht beiseite geschoben, sondern oft in den Zug hereingenommen. Den Marsch der Soldaten zum Maschmühlenweg am 8. November habe ich nicht selbst erlebt, aber ich habe von ihm gehört.

In der roten Fahne, die vom Rathaus wehte, haben wir nichts Besonderes gesehen. Das war für uns eine Selbstverständlichkeit. Wir hatten auch nicht den Eindruck, das sie besonders herausgestelllt wurde. Im Gegenteil: sie wirkte recht bescheiden.

 

Dr. Gustav Wüster, Jahrgang 1893, war der Sohn eines Berufsschuldirektors. Er selbst studierte und trat 1933 der NSDAP bei.

Ich war am 9. November 1918 auf der Weender Straße und habe Einkäufe gemacht. Es war vormittags. Plötzlich sah ich eine Masse Menschen kommen. Es waren ältere Soldaten, meist verwundet, die schäbige, zerlumpte Uniformen anhatten. Vorneweg allerdings marschierten zwei oder drei Maate der Marine in sehr sauberen, schönen blauen Uniformen. Eine Fahne hatten sie nicht. Sie hatten aus einem Vorgarten von irgendeinem Busch einen Stock abgebrochen und ein rotes Stück Papier an ihm befestigt. Das war die rote Fahne. Diese Männer kamen vom Bahnhof. Ich habe dann erfahren, daß sie sich schon telefonisch angemeldet hatten. Sie waren vorher in Northeim und haben da auch Revolution gemacht. Dieser Zug marschierte in Richtung Ebertal, denn dort war die Kommandantur.

 

August Mennecke, geboren 1896, erlebte die Revolutionstage als Matrose in Willhelmshaven. Er lernte Feinmechaniker, sein Vater war Maschinentischler und Mitglied der SPD.

(…) Dann wurden wir entlassen und kamen nach Göttingen. Hier mußten wir uns erst einmal beim Soldatenrat melden. Die Soldaten wurden in großen Mengen auf Wagen geladen und zogen durch die Stadt. Das war Ende 1918, so im November. In Göttingen erhielten wir einen Paß, und wer sich nicht meldete, wurde bestraft. Es mußte auch hier jeder die rote Farbe annehmen, Kokarde rot, rote Blume im Knopfloch. Ein Offizier kam eines Tages am Rosdorfer Weg über die Brücke, da sprang ein Mann, ich glaube Müller hieß er, auf den 0ffizier zu und riß ihm die Achselstücke ab. Der 0ffizier hat das irgendwie falsch verstanden und hat dem Mann eine "geklebt". Dann ging er weiter und rief: "Du Lausebengel, du willst mir hier als altem Frontkämpfer meine Orden und meine Achselstücke abreißen?" Wir mußten uns jeden Tag melden, ob wir noch da waren, damit die Verantwortlichen feststellen konnten, wer sich bereits verdrückt hatte.