Wahlplakat der DNVP zur Natio-nalversammlung, 19.01.1919. AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung
Wahlplakat der DNVP zur Natio-nalversammlung, 19.01.1919. AdsD / Friedrich-Ebert-Stiftung

 Wahlen

 

Ich habe mit meinem Vater zusammen die Deutsche Volkspartei gewählt. Meine Schwester hat die Deutschnationale Volkspartei gewählt. Wir mußten vier Stunden vor der Albanischule anstehen, um zu wählen - Stunden um Stunden! (Zeitzeugin)

 

Der in Berlin tagende Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte stellte im Dezember 1918 die Weichen für eine parlamentarische Demokratie. Bei der letzten Wahl 1912 wählte man in Göttingen noch nach dem Dreiklassenwahlrecht. Dieses sah in Preußen vor, dass die Wähler ein nach Steuerleistung abgestuftes Stimmengewicht hatten. Nun galt gleiches Wahlrecht: Jeder Wähler hat eine Stimme.

 

Das Wahlalter wurde von 25 auf 20 Jahre herabgesetzt, Frauen und Soldaten wählten mit. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung gab es fast 37 Millionen Wahlberechtigte, von denen 83 % wählten. 

 

Nach der Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung in Weimar bildeten drei Parteien als „Weimarer Koalition“ die erste Regierung: die neue linksliberale Deutsche Demokratische Partei (hervorgehend aus der Fortschrittlichen Volkspartei), die SPD und die katholische Deutsche Zentrumspartei (kurz: Zentrum). Zwei von ihnen waren die „Ausgegrenzten“ des Kaiserreiches: Reichskanzler Otto von Bismarck verfolgte die SPD mit den „Sozialistengesetzen“ und das Zentrum in den 1870er Jahren im „Kulturkampf“.

Delegiertenwahlen für den Reichsrätekongress

 

Die Veränderungen waren bereits Mitte November für die Göttinger spürbar. Für Mitte Dezember war in Berlin ein Reichsrätekongress geplant. Dazu wurden aus den Regierungsbezirken und Provinzen Delegierte gewählt. Für die Provinz Hannover sollten 16 Delegierte bestimmt werden. Dazu fanden in den einzelnen Städten Delegiertenwahlen statt, die die Teilnehmer einer Konferenz in Hannover am 11. Dezember bestimmten.
In Göttingen trafen sich einzelne Berufsverbände, Vereine, Beamte und Lehrer und bestimmten Delegierte zur Versammlung der Arbeiterdelegierten in der Kaiserhalle am 21. November. Die Versammlung verlief durchaus bewegt und der Vertreter der Göttinger Zeitung  kommentierte: "Noch schäumte auf der einen Seite vielfach gärender Most über, vergeudete Kraftaufwallung und Ueberschwang sich bei wenig belangvollen Materien‚ und auf der anderen Seite hielt man sich vielfach noch, wenn auch nicht mißtrauisch, so doch zögernd und mit leicht sich verletzt dünkender Feinfühligkeit empfindsam zurück." Mehr

Göttinger Zeitung, 17.01.1919 mit Wahlwerbung. StA Göttingen
Göttinger Zeitung, 17.01.1919 mit Wahlwerbung. StA Göttingen

Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung

 

Die Göttinger besuchten die Versammlungen der Parteien, die sich zur Wahl am 19. Januar 1919 stellten, in großer Zahl. Blickt man in die Zeitungen, findet man im Januar 1919 fast jeden Tag Versammlungsankündigungen der Bewerber:

  • die Deutsche Zentrumspartei. Die Partei war die Vertreterin des katholischen Deutschlands und des politischen Katholizismus. Sie hatte in Göttingen einen schweren Stand.
  • die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Sie wurde im April 1917 gegründet und hatte 1920 ca. 900 000 Mitglieder. Ihre sozialistische Politik brachte sie in Konkurrenz zum Spartakusbund, aus dem am 1. Januar 1919 die KPD hervorgeht. Sie grenzte sich von der Mehrheits-SPD ab. Vertreter der USPD in Göttingen waren u. a. Franz Arnholdt und Hans Kargl.
  • die Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Die DNVP wurde im November 1918 gegründet. Sie vereinte eine Reihe nationalkonservativer und antisemitischer Bewegungen sowie den rechten Flügel der Nationalliberalen Partei. Ihr Programm war nationalistisch, antisemitisch und kaiserlich-monarchistisch.
  • die Deutsche Demokratischen Partei (DDP). Die Parteigründung erfolgte am 24. November 1918. Die linksliberale Partei hatte ein Programm mit liberalen und sozialen Schwerpunkten, basierend auf individueller Freiheit und sozialer Verantwortung. Neben dem Zentrum und der SPD war sie die dritte Partei der „Weimarer Koalition“, d.h. der ersten Regierung der Weimarer Republik. Bekannte Vertreter in Göttingen waren die Professoren Julius Hatschek und Fritz Schulz sowie der Rechtsanwalt Hermann Föge.

Die Parteien stellten Wahllisten auf. Für Göttingen waren dies: Liste Brey=SPD, Liste Freiherr v. Richthofen=DDP, Liste Duche=DVP/Nat.Lib., Liste Wense=DNVP, Liste Alpers=Deutsch-hannoversche Partei, Liste Merges=USPD

Wahlplakat der DDP, Januar 1919. AdsD/Friedrich-Ebert-Stiftung
Wahlplakat der DDP, Januar 1919. AdsD/Friedrich-Ebert-Stiftung

 Wahl zur preußischen verfassunggebenden Landesversammlung

 

Bereits eine Woche später wählten die Göttinger erneut. Die neue Wahlordnung erstreckte sich auch auf die Wahl der Landesparlamente. Mit der Einführung des Frauenwahlrechtes war ein großes neues Wählerinnenpotential entstanden, das stark umworben wurde. Zusätzlich zu den oben genannten waren noch vertreten:

  • die Deutsch-Hannoversche Partei (DHP). Die DHP wurde 1869 aus Protest gegen die Annexion des Königreiches Hannover durch Preußen gegründet. Sie strebte die Wiedereinsetzung der Dynastie der Welfen auf den Thron an (Welfenpartei). Die Partei war konservativ-lutherisch und vor allem antipreußisch geprägt. Nach der Revolution propagierte die Partei ein unabhängiges Land Hannover.
  • die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Die Partei vertrat die sozialistische Umwandlung der Gesellschaft durch Reformen (Revisionismustheorie). In der Revolution konnte die SPD eine ihrer wichtigsten Forderungen durchsetzen: die Demokratisierung und Verbesserung der Lage der arbeitenden Bevölkerung. Neben dem Zentrum und der DDP war sie die wichtigste staatstragende Partei der Weimarer Republik.
Göttinger Zeitung, 27.02.1919: Wahlversammlungen zur bevorstehenden Kommunalwahl. SA Göttingen
Göttinger Zeitung, 27.02.1919: Wahlversammlungen zur bevorstehenden Kommunalwahl. SA Göttingen

Göttinger Kommunalwahlen (Bürgervorsteherwahlen)

 

 

Am Sonntag, den 2. März 1919 wählten die Göttinger ihren Rat, der den Namen "Bürgervorsteherkollegium" trug. Die Göttinger SPD beteiligte sich im März 1919 zum ersten Mal an den Kommunalwahlen. Die Streichung des Bürgerrechtsgewinngeldes von 60,- Mark als Wahlvoraussetzung - eine alte SPD-Forderung in Göttingen - fiel weg, was nun auch  ihren Anhängern das Wählen ermöglichte. Wie sich schon bei den beiden vorangehenden Wahlen angedeutet hatte, wurden die Mehrheitssozialdemokraten stärkste Fraktion. Die Wahlbeteiligung lag bei 63%.

Die Listen verteilten sich wie folgt:

  • Liste Bode=SPD, angeführt von Karl Bode und Fritz Wedemeyer
  • Liste Föge=DDP, angeführt von Hermann Föge und Wilhelm Berger
  • Liste Schmidt=DVP, angeführt von Hermann Schmidt und Hermann Alberti
  • Liste Lambach=Dtsch.-hann. Partei und Zentrum, angeführt von Harry Lambach und Wilhelm Rudolph
  • Liste Susebach= DNVP, angeführt von  Heinrich Susebach und Theophil Weber
  • Liste Kargl=USPD, die Partei konnte zwar ihr Ergebnis gegenüber der Januarwahl verbessern, ihre Stimmenanteile reichten allerdings nicht für einen Ratssitz aus

Zeitzeugen

 

Dr. Herbert Beyer, geboren 1894, war der Sohn eines Rechtsanwalts. Er selbst studierte und wurde ebenfalls Rechtsanwalt und Notar.
Ich habe mich an den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung selbstverständlich beteiligt und SPD gewählt, weil mir schien, daß diese die einzige staatstragende Partei war. Ich bin erst sehr viel später aus ihr ausgetreten, als sich diese Partei mehr und mehr als eine einseitige Vertretung der Arbeiterbevölkerung entwickelte, und eine Klassenkampf-Einstellung gegen die übrigen Bevölkerungsschichten zeigte.


Karl Gahr, Jahrgang 1896, übernahm den elterlichen Bauernhof.
Im Lazarett galten wir nicht mehr als Soldaten und durften wählen. So habe ich mich an der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung beteiligt und die Deutsch-Nationale-Volkspartei gewählt, weil ich kaisertreu war und es heute noch bin.


Karl Hoffmann war 1918 31 Jahre alt. Sein Vater war Optiker, er selbst Feinmechaniker. Hofmann wurde Mitglied der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Partei.
(…) Ich war politisch engagiert und sogar zweimal bei den Wahlen zum Bürgervorstand aufgestellt.
Ich habe mich immer an Wahlen beteiligt. Und ich habe immer die Deutsche Demokratische Partei gewählt.


Gerhard Lubrich war 1918 15 Jahre alt und besuchte das Gmynasium. Sein Vater war Beamter, er selbst arbeitete später bei der Ärztekammer. Er blieb parteilos.
(Frage: Welche Partei hätten sie gewählt, wenn sie an den Wahlen hätten teilnehmen können?)
Ich war Wahlzettelverteiler vor einem Wahllokal, und dieses Wahllokal war die damalige Westliche Volksschule. Heute heißt sie Jahnschule. Dort stand ich dann mit einem Pappplakat vor dem Bauch und darauf stand: Wählt Deutsch-Nationale-Volkspartei. Wenn ich 1919 hätte wählen können, dann hätte ich diese Partei natürlich gewählt.


Wilhelm Meyer, Jahrgang 1894, war der Sohn eines Beamten. Er begann ein Studium, das er abbrach und eine Banklehre anfing.
Wir waren bis zum Ausbruch des Krieges mit dem Kaiserreich zufrieden gewesen. Ich habe darum auch bewußt die Deutsch-Nationale-Volkspartei gewählt, damit die linke Seite nicht zu stark wurde.
Zur Verfassung stand ich positiv, denn ich hoffte, daß damit die neue Regierung Ruhe und Ordnung schaffen wurde.


Willi Reinhard war zur Zeit der Revolution 14 Jahre alt. Er erlernte den Beruf eines Bäckers und trat 1926 in die SPD ein.
Von meiner Sympathie mit der SPD habe ich schon gesprochen. Es gab zwar auch noch die USD, aber die war mir zu radikal. Ebenso lehnte ich alle rechtsradikalen Parteien ab. Dabei war für mich die politische Zielsetzung einer Partei entscheidend, nicht ihre führenden Männer.


Der Hauptschullehrer R.R. war im November 1918 22 Jahre alt. Sein Vater war ebenfalls Lehrer gewesen. R.R. tendierte zur DDP.
(…) Ich habe mich nicht politisch interessiert, denn Politik ist ein schmutziges Geschäft.
(...) Ich habe mich an der Wahl beteiligt und die Deutsche Demokratische Partei gewählt, da ich der Meinung war, das diese Partei das Schulwesen am besten fördern würde. Ebert war ein tüchtiger Mann, mit den anderen Personen auch hier in Göttingen habe ich mich nicht befaßt.


Dr. Richard Reitzenstein, geboren 1894, war der Sohn eines Universitätsprofessors. Er selbst wurde Bibliotheksrat.
An den Wahlen zur Nationalversammlung habe ich teilgenommen. Ich habe die DDP gewählt, weil ich sie als bürgerlich betrachtete und weil ich sie für jede vernünftige Reform offen hielt. Noske und Ebert waren für mich ehrliche Menschen und Deutsche, deren Politik ich gern unterstützen wollte, aber auch beeinflussen, daß sie nicht zu weit nach links gerieten.


Dr. Georg Schnath, geboren 1898, bildet einen Sonderfall. Er führte Tagebuch zu den Ereignissen 1918 und 1919 und publizierte es in zeitlicher Nähe zu seinem Interview mit Popplow.
Ich habe mich natürlich an der Wahl beteiligt und ich habe die Deutsche Volkspartei (DVP) gewählt, die Nachfolgepartei der Nationalliberalen Partei war. Die leuchtete mir mit ihrer nationalen Idee und wirtschaftlicher Förderung des Unternehmertums gut ein. Sie war zwar rechts gesinnt, aber nicht so rechtsradikal, wie die Deutschnationalen. Man hatte immer einen liberalen Einschlag.