Wahlen
Ich habe mit meinem Vater zusammen die Deutsche Volkspartei gewählt. Meine Schwester hat die Deutschnationale Volkspartei gewählt. Wir mußten vier Stunden vor der Albanischule anstehen, um zu wählen - Stunden um Stunden! (Zeitzeugin)
Der in Berlin tagende Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte stellte im Dezember 1918 die Weichen für eine parlamentarische Demokratie. Bei der letzten Wahl 1912 wählte man in Göttingen noch nach dem Dreiklassenwahlrecht. Dieses sah in Preußen vor, dass die Wähler ein nach Steuerleistung abgestuftes Stimmengewicht hatten. Nun galt gleiches Wahlrecht: Jeder Wähler hat eine Stimme.
Das Wahlalter wurde von 25 auf 20 Jahre herabgesetzt, Frauen und Soldaten wählten mit. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung gab es fast 37 Millionen Wahlberechtigte, von denen 83 % wählten.
Nach der Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung in Weimar bildeten drei Parteien als „Weimarer Koalition“ die erste Regierung: die neue linksliberale Deutsche Demokratische Partei (hervorgehend aus der Fortschrittlichen Volkspartei), die SPD und die katholische Deutsche Zentrumspartei (kurz: Zentrum). Zwei von ihnen waren die „Ausgegrenzten“ des Kaiserreiches: Reichskanzler Otto von Bismarck verfolgte die SPD mit den „Sozialistengesetzen“ und das Zentrum in den 1870er Jahren im „Kulturkampf“.
Delegiertenwahlen für den Reichsrätekongress
Die Veränderungen waren bereits Mitte November für die Göttinger spürbar. Für Mitte Dezember war in Berlin ein Reichsrätekongress geplant. Dazu wurden aus den Regierungsbezirken und Provinzen
Delegierte gewählt. Für die Provinz Hannover sollten 16 Delegierte bestimmt werden. Dazu fanden in den einzelnen Städten Delegiertenwahlen statt, die die Teilnehmer einer Konferenz in Hannover am
11. Dezember bestimmten.
In Göttingen trafen sich einzelne Berufsverbände, Vereine, Beamte und Lehrer und bestimmten Delegierte zur Versammlung der
Arbeiterdelegierten in der Kaiserhalle am 21. November. Die Versammlung verlief durchaus bewegt und der Vertreter der Göttinger Zeitung kommentierte: "Noch schäumte auf der einen
Seite vielfach gärender Most über, vergeudete Kraftaufwallung und Ueberschwang sich bei wenig belangvollen Materien‚ und auf der anderen Seite hielt man sich vielfach noch, wenn auch nicht
mißtrauisch, so doch zögernd und mit leicht sich verletzt dünkender Feinfühligkeit empfindsam zurück." Mehr
Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung
Die Göttinger besuchten die Versammlungen der Parteien, die sich zur Wahl am 19. Januar 1919 stellten, in großer Zahl. Blickt man in die Zeitungen, findet man im Januar 1919 fast jeden Tag Versammlungsankündigungen der Bewerber:
Die Parteien stellten Wahllisten auf. Für Göttingen waren dies: Liste Brey=SPD, Liste Freiherr v. Richthofen=DDP, Liste Duche=DVP/Nat.Lib., Liste Wense=DNVP, Liste Alpers=Deutsch-hannoversche Partei, Liste Merges=USPD
Wahl zur preußischen verfassunggebenden Landesversammlung
Bereits eine Woche später wählten die Göttinger erneut. Die neue Wahlordnung erstreckte sich auch auf die Wahl der Landesparlamente. Mit der Einführung des Frauenwahlrechtes war ein großes neues Wählerinnenpotential entstanden, das stark umworben wurde. Zusätzlich zu den oben genannten waren noch vertreten:
Göttinger Kommunalwahlen (Bürgervorsteherwahlen)
Am Sonntag, den 2. März 1919 wählten die Göttinger ihren Rat, der den Namen "Bürgervorsteherkollegium" trug. Die Göttinger SPD beteiligte sich im März 1919 zum ersten Mal an den Kommunalwahlen. Die Streichung des Bürgerrechtsgewinngeldes von 60,- Mark als Wahlvoraussetzung - eine alte SPD-Forderung in Göttingen - fiel weg, was nun auch ihren Anhängern das Wählen ermöglichte. Wie sich schon bei den beiden vorangehenden Wahlen angedeutet hatte, wurden die Mehrheitssozialdemokraten stärkste Fraktion. Die Wahlbeteiligung lag bei 63%.
Die Listen verteilten sich wie folgt:
Zeitzeugen
Dr. Herbert Beyer, geboren 1894, war der Sohn eines Rechtsanwalts. Er selbst studierte und wurde ebenfalls Rechtsanwalt und
Notar.
Ich habe mich an den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung selbstverständlich beteiligt und SPD gewählt, weil mir schien, daß diese die einzige staatstragende Partei war. Ich bin erst sehr viel
später aus ihr ausgetreten, als sich diese Partei mehr und mehr als eine einseitige Vertretung der Arbeiterbevölkerung entwickelte, und eine
Klassenkampf-Einstellung gegen die übrigen Bevölkerungsschichten zeigte.
Karl Gahr, Jahrgang 1896, übernahm den elterlichen Bauernhof.
Im Lazarett galten wir nicht mehr als Soldaten und durften wählen. So habe ich mich an der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung beteiligt und die Deutsch-Nationale-Volkspartei gewählt, weil ich
kaisertreu war und es heute noch bin.
Karl Hoffmann war 1918 31 Jahre alt. Sein Vater war Optiker, er selbst Feinmechaniker. Hofmann wurde Mitglied der neu gegründeten Deutschen Demokratischen
Partei.
(…) Ich war politisch engagiert und sogar zweimal bei den Wahlen zum Bürgervorstand aufgestellt.
Ich habe mich immer an Wahlen beteiligt. Und ich habe immer die Deutsche Demokratische Partei gewählt.
Gerhard Lubrich war 1918 15 Jahre alt und besuchte das Gmynasium. Sein Vater war Beamter, er selbst arbeitete später bei der Ärztekammer. Er blieb
parteilos.
(Frage: Welche Partei hätten sie gewählt, wenn sie an den Wahlen hätten teilnehmen können?)
Ich war Wahlzettelverteiler vor einem Wahllokal, und dieses Wahllokal war die damalige Westliche Volksschule. Heute heißt sie Jahnschule. Dort stand ich dann mit einem Pappplakat vor dem Bauch
und darauf stand: Wählt Deutsch-Nationale-Volkspartei. Wenn ich 1919 hätte wählen können, dann hätte ich diese Partei natürlich gewählt.
Wilhelm Meyer, Jahrgang 1894, war der Sohn eines Beamten. Er begann ein Studium, das er abbrach und eine Banklehre anfing.
Wir waren bis zum Ausbruch des Krieges mit dem Kaiserreich zufrieden gewesen. Ich habe darum auch bewußt die Deutsch-Nationale-Volkspartei gewählt, damit die linke Seite nicht zu stark
wurde.
Zur Verfassung stand ich positiv, denn ich hoffte, daß damit die neue Regierung Ruhe und Ordnung schaffen wurde.
Willi Reinhard war zur Zeit der Revolution 14 Jahre alt. Er erlernte den Beruf eines Bäckers und trat 1926 in die SPD ein.
Von meiner Sympathie mit der SPD habe ich schon gesprochen. Es gab zwar auch noch die USD, aber die war mir zu radikal. Ebenso lehnte ich alle rechtsradikalen Parteien ab. Dabei war für mich die
politische Zielsetzung einer Partei entscheidend, nicht ihre führenden Männer.
Der Hauptschullehrer R.R. war im November 1918 22 Jahre alt. Sein Vater war ebenfalls Lehrer gewesen. R.R. tendierte zur DDP.
(…) Ich habe mich nicht politisch interessiert, denn Politik ist ein schmutziges Geschäft.
(...) Ich habe mich an der Wahl beteiligt und die Deutsche Demokratische Partei gewählt, da ich der Meinung war, das diese Partei das Schulwesen am besten fördern würde. Ebert war ein tüchtiger
Mann, mit den anderen Personen auch hier in Göttingen habe ich mich nicht befaßt.
Dr. Richard Reitzenstein, geboren 1894, war der Sohn eines Universitätsprofessors. Er selbst wurde Bibliotheksrat.
An den Wahlen zur Nationalversammlung habe ich teilgenommen. Ich habe die DDP gewählt, weil ich sie als bürgerlich betrachtete und weil ich sie für jede vernünftige Reform offen hielt. Noske und
Ebert waren für mich ehrliche Menschen und Deutsche, deren Politik ich gern unterstützen wollte, aber auch beeinflussen, daß sie nicht zu weit nach links gerieten.
Dr. Georg Schnath, geboren 1898, bildet einen Sonderfall. Er führte Tagebuch zu den Ereignissen 1918 und 1919 und publizierte es in zeitlicher Nähe zu seinem
Interview mit Popplow.
Ich habe mich natürlich an der Wahl beteiligt und ich habe die Deutsche Volkspartei (DVP) gewählt, die Nachfolgepartei der Nationalliberalen Partei war. Die leuchtete mir mit ihrer nationalen
Idee und wirtschaftlicher Förderung des Unternehmertums gut ein. Sie war zwar rechts gesinnt, aber nicht so rechtsradikal, wie die Deutschnationalen. Man hatte immer einen liberalen
Einschlag.